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Alle Brüder werden Menschen

Was ist los auf dieser Welt? Natürlich hat am letzten Mittwoch um circa 22.35 Uhr, als die Deutschen, das heißt meine Mannschaft, gerade seit zwei Minuten von der Europameisterschaft verabschiedet waren, der erste Österreicher bei mir angerufen, um im luftigen Kleide der Kondolation einen Kübel Spott auszuschütten. Und natürlich konnte ich am nächsten Morgen nicht ausschlafen, denn da gaben sich die Mitleid prätendierenden so genannten "Freunde" den Telefonhörer in die Hand, um mir ihre Anteilnahme kundzutun. Alles in allem ist der Fussball aber nicht mehr das, als was man ihn kennt. Unabhängig davon, wer nun ausgeschieden ist und wer in altbekannter Ringo-Starr-Atonalität nach "Yellow Submarine" ein "Schade, Deutschland, alles ist vorbei" skandiert. Alles in allem, wie gesagt, kriegt man sich nicht mehr in die Haare. Selbst im Café Anzengruber, wo der harte Kern sein Unwesen zu treiben pflegt und wo auch ich mich gerne herumtreibe, um ein Reststück an wahrer Fan-, sprich Fanatismus-Mentalität zu aktivieren, nicht einmal dort schreien sie mehr nach Herzenslust gegen die Deutschen. Wie ist das mit der Agonie, dem Kampf auf Biegen und Brechen und der ewigen Rivalität der Nationen? Längst hat der sattsam bekannte Moralismus alle Untergriffigkeiten aus dem profanen Ernst der Politik vertrieben. Doch wie steht es mit dem heiligen Ernst des Sports? Darf man hier auch nicht mehr unbeugsam sein? Vor mehr als einem Säkulum, exakt im Jahr 1899, brachte der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen in seiner "Theorie der feinen Leute" folgende Bemerkung zu Papier: "Man hat nicht mit Unrecht behauptet, daß der Fußball zur Körperkultur im selben Verhältnis steht wie der Stierkampf zur Landwirtschaft". Wie ist das nun mit dem Stierkämpferischen im Fußball? Offensichtlich nichts mehr. Ruud van Nistelrooy, der holländische Mittelstürmer, hat zwar vor dem Match gegen die Deutschen verlauten lassen, es würde dabei immer auch das Jahr 1944, also die Nazis, also die Okkupation mitspielen (und auch die Kollaboration, aber das hat er nicht gesagt). Was dann schließlich gespielt wurde, war ein normales langweiliges (meinten die Österreicher) oder aufregendes (meinten die Deutschen) Gruppenspiel. Statt Bruderzwist ein völkerverständiges "Alle Menschen werden Brüder". In Veblens Schrift ist auch noch folgendes zu lesen: "So ist der Hang zum Sport bei der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung auch nicht derart ausgeprägt, daß er zur Bildung einer sportlichen Gewohnheit führt. Diesen Klassen bietet der Sport eher eine gelegentliche Zerstreuung, als daß er einen wesentlichen Aspekt ihres Lebens darstellen würde." Sieht so aus, als hätte Veblen Recht.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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