KI und Alchemie
Dieses kleinformatige Gemälde eröffnet sich auf mehreren Ebenen. Zwei Themenfelder kreuzen sich darin, die auf den ersten Blick kaum miteinander vereinbar scheinen: die gegenwärtige Situation im Nahen Osten und der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Zugleich kann das Bild diese Themen selbstverständlich nicht im eigentlichen Sinne veranschaulichen. Es entstand um 1700, vermutlich in den Niederlanden oder im süddeutschen Raum. Für eine niederländische Herkunft spricht das Sujet, für die süddeutsche die eigentümliche Figurenbehandlung, wie sie seit der Donauschule mit ihren verdunkelten, kammermusikalischen Szenen vertraut ist. Ausschlaggebend bleibt jedoch das holländische Motiv: die Darstellung der Erkundung von Erkenntnis. Wissen erscheint hier nicht als statisches Reservoir, sondern als bewegliches und widersprüchliches Feld.
In einem düsteren Raum sitzen mehrere Figuren um einen Tisch, Männer mit langen Bärten und kargen Mienen, – eine verschwörerische Zusammenkunft. Nur eine Kerze erhellt die Szene. Auf dem Tisch steht ein Globus, wie ein dunkles Auge im Halbschatten. Er ist Zentrum von Wissen, Macht und Möglichkeit. Ein Vorhang rahmt das Geschehen, als handle es sich um eine Bühne, deren Kulissen Geheimnisse und Verwünschungen bergen. Ursprünglich sollten solche Draperien Bilder schützen. Hier werden sie zum Trompe-l’œil und zum Sinnbild der Doppelheit menschlicher Erkenntnis, sichtbar und verborgen, verführerisch und gefährlich zugleich.
Rechts vom Globus sitzt ein Mann mit Kappe und hochgeschlagener Krempe. Der bärtige Gelehrte hält eine Glaskolbenflasche gegen das Licht. Diese Kappe kennzeichnet in der niederländischen Malerei typischerweise einen Arzt, Vertreter einer empirisch-rationalen Tradition. Neben ihm beugt sich ein anderer Gelehrter über einen Folianten, die Augen auf Rezepturen und Formeln gerichtet. Auf der linken Seite sitzen drei weitere Figuren: ein Mann mit Turban, versunken in die Lektüre, daneben ein jüdischer Gelehrter mit schwarz-weißem Tallit über Kopf und Schultern, schließlich eine in rotes Gewand gehüllte Gestalt, vermutlich eine Frau, deren Rücken dem Blick der Betrachter:innen zugewandt bleibt. Hinter der Runde verbirgt sich, kaum erkennbar, der Tod – ein stummer Zeuge des Forschens, der die Vergänglichkeit menschlichen Strebens einmahnt.
Die Szene ist faustisch und zugleich ein Kommentar zur conditio humana. Wissen ist nie neutral, sondern stets Macht, Verantwortung und Risiko. Die Figuren verkörpern unterschiedliche epistemische Traditionen: der Arzt das christlich-europäische Denken, der Mann mit Turban das islamische, der Gelehrte mit Tallit die jüdische Weisheit. Ihre friedliche Koexistenz erscheint als mikrokosmisches Experiment der Zusammenarbeit und verweist zugleich auf die Fragilität menschlicher Verständigung angesichts politisch-religiöser Konflikte. Hier jedoch sitzen sie einträchtig beisammen, vereint durch ein alchemistisches Experiment, das mehr besagt als bloß die Suche nach Gold. Es folgt dem Versuch, Materie und Sein soweit zu verändern, dass eine neue, vom Menschen entworfene Existenz entsteht.
Die europäischen Alchemisten des 17. Jahrhunderts verbanden empirische Experimente mit der Lektüre antiker, arabischer und jüdischer Texte. Der Arzt steht für Versuch und Irrtum, für Beobachtung, Prüfung und Revision. Die Gelehrten aus dem „Morgenland“ verkörpern überlieferte, oft verschlüsselte Weisheit, dazu gehören das Corpus Hermeticum, die Kabbala und die arabische Alchemie Jabirs. Das Kerzenlicht fällt auf alle, doch jeder scheint in sein Universum vertieft. Das Bild wird so zum Labor, in dem unterschiedliche Wissenssysteme aufeinandertreffen, sich spiegeln, ergänzen und widersprechen. Wir sehen einen Ort epistemischer Begegnung, geformt nach der europäischen Vorstellung einer im Norden entstandenen Malerei, die ältere, fremde Wissensreservoirs ebenso respektiert wie exotisiert.
Die Anwesenheit des Todes, der im Hintergrund lauert, führt die Szene in eine ethische Dimension. Das memento mori erscheint hier nicht als beiläufiges Vanitas-Motiv, sondern als strukturelles Limit. Die schaurige Gestalt markiert die Grenze menschlichen Forschens. Ihre dunkle Präsenz verweist auf die Möglichkeit des Scheiterns, auf die unvorhersehbaren Konsequenzen schöpferischer Hybris. In einer zeitgenössischen Lesart wird sie zum Sinnbild jener unkontrollierbaren Dynamiken, die auch der künstlichen Intelligenz innewohnen, Systeme, die aus Daten lernen, aber nicht moralisch verantwortlich handeln, die Macht generieren, ohne Bewusstsein für ihre Folgen.
Historisch ist das Gemälde Produkt einer Epoche, in der Wissen noch nicht diszipliniert und standardisiert war, sondern synkretistisch, hybrid und experimentell. Die großen Übersetzungsbewegungen – vom Griechischen über das Arabische ins Lateinische –, die Naturphilosophie der frühen Neuzeit und die Praxis handschriftlicher Rezepturen formten eine Wissenskultur, deren Autorität zugleich aus Text und Experiment erwuchs. Genau diese Materialität – Bücher, Glas, Pulver, Flaschen – tritt im Bild hervor. Sie verweist auf das, was wir heute „Daten“ nennen. Der Vergleich ist nicht bloß metaphorisch, sondern begrifflich: Wie die Alchemisten Stoffe sammelten, kombinierten und prüften, so verarbeiten heutige Algorithmen heterogene, historisch und politisch geprägte Datensätze.
So entfaltet sich in der alchemistischen Szene eine Spannung zwischen Macht, Wissen und Verantwortung. Was die Alchemisten als materia prima suchten. Die Substanz, aus der alles entsteht, wird heute digital rekonstruiert. Künstliche Intelligenz speist sich aus Archiven, Texten, Daten, Fragmenten. Sie verschmilzt heterogene Quellen zu autorenlosen Wissensformationen. Erkenntnis entsteht nicht mehr innerhalb gesicherter Systeme, sondern aus dem unkontrollierten Ineinanderfließen von Informationen und Quellen. Das Resultat ist kein neues Sein, sondern ein maschinell generiertes Bewusstsein, es entsteht eine epistemische Entität, die die menschliche Perspektive übersteigt, sie herausfordert und bedroht.
So wird das alte Bild niederländischer Barockmalerei zur Allegorie der Gegenwart. Die Weisen um den Globus sind Vorläufer heutiger Programmierer:innen, Forscher:innen, Strateg:innen. Ihre Flaschen sind Reagenzgläser wie Server, ihre Bücher Datenbanken, der Globus ein Planet, längst zum Experimentierfeld geworden. Über allem schwebt der Tod als Zeuge möglicher Selbstvernichtung, und als Erinnerung an die Endlichkeit des Forschens, wenn Wissen ohne ethische Reflexion angewendet wird.
Den einzigen Ausweg bietet die in Rot gekleidete Figur. Anders als die Männer nimmt sie nicht aktiv am Experiment teil, sondern beobachtet. Rot steht in der alchemistischen Ikonografie für die rubedo, die letzte Stufe des magnum opus, das Symbol der Vollendung. Die Frau am Tisch ist Zeugin, reflektierende Instanz und kritische Kontrolle. Heute ließe sie sich als Entsprechung von Ethiker:innen, KI-Auditor:innen oder Journalist:innen lesen. Sie sind Beobachtende, die das Handeln der Forschenden begleiten und prüfen. Sie vermittelt zwischen den Kräften des Wissens und dem Tod, der darauf wartet, dass ungebremste Erkenntnis Schaden anrichtet. Im Bild bleibt sie das Rätsel: anwesend, aber entzogen, Gefährtin und Rest zugleich, bereit aufzustehen und den Tisch zu verlassen, dies als ist ein Zeichen dafür, dass Zeugenschaft und die bewusste Distanznahme eine politische Kraft entfalten können.
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Abb.: Alchemistenszene, vermutlich niederländisch, um 1700, Öl auf Leinwand, gerahmt 29 × 34 cm, Privatbesitz
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