Mehtap Baydu - Lass deinen Regen regnen (Kendi Yağmurunu Yağdırmak): Unsere Gegenwart braucht Regen
Hier schmiegen sich die Zierdeckchen wie zwei Teile eines Kleidungsstücks an die Schultern der Künstlerin, dort bedecken sie ihre auf den Oberschenkeln ruhenden Hände als wären sie für ein Ritual platziert; die Haut bildet einen starken Kontrast zum strahlenden Weiß der Textilien. Es ist feinste Handarbeit: Sorgfältig gehäkelte Spitze, Blumen, die zu einem ordentlichen Muster zusammengewachsen sind. Schön sieht das aus. Aber schmücken die Deckchen den Frauenkörper bloß oder markieren sie ihn – als verheiratete Frau, als Teil eines Mannes, als dem Häuslichen Angehörende?
In den großformatigen Fotografien der Serie Mitgift - Çeyiz - Dowry (2024-25) thematisiert die Künstlerin Mehtap Baydus (geboren in Bingöl, Türkei, lebt in Berlin) kulturelles Erbe als (Ver-)Bindung und als Begrenzung. Die Deckchen, handgemacht von ihrer Mutter, sind Teil ihrer eigenen Mitgift und fungieren in der Arbeit als Ausgangspunkt einer Reflexion über Herkunft und Zugehörigkeit sowie über den eigenen Umgang mit Rollenerwartungen. Baydus Körper wird zum Ort der persönlichen Aneignung dieser kulturellen Tradition, die sowohl den Aspekt der Fürsorge als auch die Gefahr der Fremdbestimmung beinhaltet.
Die Fotografien sind Teil von Mehtap Baydus Ausstellung Lass deinen Regen regnen (Kendi Yağmurunu Yağdırmak) in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden und sind im großen Hauptraum zu sehen, durch den die Besuchenden die Ausstellung betreten. Hier hängen auch die beiden für diesen Ort angefertigten Glas-Skulpturen The Distance Between Me and Everything Else (a Body in Glass) und Heves - Eagerness (beide 2025) von der Decke. The Distance Between Me and Everything Else (a Body in Glass) ist ein der Länge nach aufgeschnittener Abguss von Baydus Körper. Wie eine abgelegte Hülle, hängt er über den an Drahtseilen befestigten Stangen. Wird diese Hülle noch einmal gebraucht, oder ist es Zeit, sich von ihr zu verabschieden? Wir sehen das Gesicht der Künstlerin sehr deutlich, ihre Hände und Füße, am Rücken erkennen wir den Abdruck eines Leberflecks, der auch in einer der Mitgift - Çeyiz - Dowry-Fotografien zu sehen ist. Das ist Baydus Körper und er ist es nicht. An- und Abwesenheit verschränken sich hier und werden zu einem starken Bild für den Prozess der persönlichen Veränderung, der geprägt ist von Loslassen und Festhalten, Schmerz und Befreiung. Man kann sich selbst in dieser Hülle sehen, die eigenen Reste einer vergangenen Version der eigenen Identität. Oder vielleicht ist es mal wieder Zeit für eine Neuerung? „Jede Veränderung [ist] ein Dialog mit sich selbst und der Welt […]“, heißt es im Booklet zur Ausstellung und das bleibt hängen.
Von diesen Arbeiten ausgehend, führt die von Christina Lehnert, Sandeep Sodhi und Çağla Ilk kuratierte Ausstellung - es ist die bislang größte Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland - durch Baydus Werk. In den Medien Skulptur, Textil, Fotografie, Video und Performance erzählt sie von feministischer Selbstbehauptung, lotet den Raum zwischen Tradition und radikaler Selbstbestimmung aus und stellt Identität als soziales Konstrukt heraus, das sowohl von Rollenerwartungen als auch von gesellschaftlichen Zuschreibungen und Narrativen geprägt ist. So zeigt die Fotografie Osman (seit 2011) Baydus gleichnamiges Alter Ego, mit dem sie sich auf die Biografien türkischer „Gastarbeiter“ der 1960er Jahre bezieht. Und für Kıyafet-Anzug - Clothing (2015) ließ sie sich einen Anzug - Symbol männlicher Repräsentation und Macht - aus geblümtem Pazen schneidern, einem Flanellstoff, der in der Türkei traditionell von Frauen getragen wird. Durch die Verbindung der beiden mit sozialen Markern versehenen Kleidungsstücke bzw. Materialien verweist die Künstlerin auf gesellschaftlich konstruierte Rollenbilder und die damit verbundenen Erwartungen und gibt gleichzeitig die Möglichkeit einer Öffnung und Neuverhandlung dieser Rollen.
Ihre Werke sind von Respekt und einem liebevollen Blick für die Traditionen ihrer Heimat geprägt und schauen doch kritisch auf Momente der Diskriminierung der Frau, so wie beispielsweise in Cuma (2016/17): Der handgeknüpfte Teppich thematisiert die Sichtbarkeit von Frauen in institutionellen Räumen und wirft damit verbundene Fragen der Zugehörigkeit auf.
Ihre künstlerische Praxis ist Ausdruck einer Wertschätzung kultureller Traditionen und bestehen gleichzeitig auf das Anrecht einer selbstbestimmtem Aneignung dergleichen. Das Dazwischen, oft auch die Anerkennung von Gleichzeitigkeit finden sich in zahlreichen Arbeiten. Man könnte sagen: Jede Welt ist ein Dialog mit sich selbst und der in ihr stattfindenden Veränderung.
Im letzten Raum des Rundgangs ist das von Baydu selbst gefertigte Kostüm ihrer Performance Regen kommt! (Rain is coming!) (2015) zu sehen. Es stellt einen Pfau dar, der in der jesidischen Kultur als Regenbringer mit Fruchtbarkeit, Erneuerung und Leben assoziiert ist. Baydu führte die Performance im öffentlichen Raum der türkischen Stadt Mardin, nahe der Grenze zu Syrien, vor. In einer von politischer Spannung, Gewalt und Zerstörung geprägten Zeit verkündete Baydu als Pfau den baldigen Regen - ein reinigender, heilender Regen, der die Möglichkeit eines Morgen birgt. Die Performance - im Ausstellungsraum präsent durch das wunderschöne Kostüm und ein Megaphon - ist im Kontext des ursprünglichen Aufführungsortes eine Geste der Hoffnung; im Kontext des Hier und Jetzt in Baden-Baden verwandelt sie den Ausstellungstitel in eine direkte Ansprache an die Besucher*innen: Lass deinen Regen regnen wird zu einem Aufruf an uns alle, zur Heilung und zum Wandel beizutragen. Die Performance, ebenso wie die gesamte Ausstellung erinnert so daran, dass eine andere, eine heilere Welt möglich ist. Wenn wir unseren Regen regnen lassen.
27.06. - 14.09.2025
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
76530 Baden-Baden, Lichtentaler Allee 8 A
Tel: +49 7221 30076400
Email: info@kunsthalle-baden-baden.de
http://www.kunsthalle-baden-baden.de
Öffnungszeiten: Di - So 10 - 18 h, Mo geschlossen
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