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European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa: Tour d'Europe

Die Bilder kommen aus dem Norden, Süden, Westen und dem Osten. Die Kuratorin Anja Richter hat für ihre ambitionierte und umfassende Ausstellung „European Realities – Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa” den ganzen Kontinent durchforstet und viele bisher unbeachtete Bilder wieder aus Depots holen lassen und sie im Museum Gunzenhauser in Chemnitz zu einer beeindruckenden Schau zusammengetragen.

Die Prämisse war die geschichtsträchtige Ausstellung 1925 in Mannheim, für die Gustav Friedrich Hartlaub den Begriff der Neuen Sachlichkeit prägte und die damals auch nach Chemnitz tourte. Die Kunsthalle Mannheim selbst feierte letztes Jahr dieses Jubiläum mit der hervorragenden Ausstellung „Neue Sachlichkeit“, in der sie auch den Blick von damals weitete: Sie bezog Künstlerinnen mit ein, denn damals war keine Frau vertreten, und reflektierte mit einigen Arbeiten aus England, den Niederlanden, der Schweiz und Österreich, dass es eine Kunstströmung war, die ebenso in Nachbarländern präsent war.  

European Realities geht nun einen Schritt weiter mit seiner Breite, blickt aber auch tiefer. Zum einen, was diese Realismusbewegung europaweit hervorbrachte, zum anderen wird der Begriff der Bewegung buchstäblich auf die Künstler:innen angewendet: Sie alle verließen ihre Heimatstadt und ihr Lebensweg führte sie in verschiedene Städte und Länder. Die Gründe waren vielfältig: Das Kunststudium, die Weiterbildung bspw. in Paris, Rom oder München oder der Ruf der Kunstzentren, wo sie auf andere Künstler stießen, sich gegenseitig inspirierten und Netzwerke bildeten. Später zwang der Druck der politischen Rechten und Verfolgung sie dazu, woanders Sicherheit zu suchen.

Die Bewegungen der Künstlerschaft wird gut über eine Videografik illustriert, die eine Karte Europas zeigt mit ihren Kunstzentren Paris, Rom, Berlin, Dresden, London, Amsterdam, Wien, Budapest, St Petersburg, Helsinki und mehr. Über einen Zeitraum von 1918 bis 1939 wird nachgezeichnet, wie diese anwachsen und wieder schwinden entsprechend den Bewegungen der Künstler:innen. Diese Bewegung geht mitunter auf das zurück, was den Trend zum Realismus hervorbrachte: Die neue politische Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg schuf viele neue Staaten, die demokratische ausgerichtet waren und wichtige Freiheiten boten. Zudem gab es nach den Wirren des Krieges und dem Expressionismus ein starkes Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung.

Die 290 Werke von etwa 60 Künstlerinnen und Künstlern sind aus 20 Ländern entsandt worden und erstrecken sich über drei Stockwerke. Ein großer Teil der Arbeiten ist in Deutschland zum ersten Mal zu sehen, das gilt auch für zahlreiche Künstler:innen. So wird mit vielen neuen bekannt gemacht und die Schildchen mit ihren Biografien werden dankbar aufgenommen. Besonders ist hier zudem die kleine Karte Europas neben den Bildern, die die wichtigsten Stationen einer Künstlerin bzw. eines Künstlers nachzeichnet und das Motiv der Bewegung noch greifbarer macht.

Anja Richter hat ihre Schätze geschickterweise nicht nach Ländern gruppiert, sondern nach Thema. Das demonstriert zunächst, dass diese Themen europaweit präsent waren, und darüber hinaus, dass es sich vom Motiv und Stil her nicht unbedingt festmachen lässt, woher ein Bild stammt. Lediglich die Schildchen verweisen darauf. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Thema „Großstadt und Nachtleben“. Da stammt aus Großbritannien William Roberts „The Jazz Party“ (1921), aus Deuschland Max Beckmanns „Tanz in Baden-Baden“ (1923); „Wohltätigkeitsbasar“ (1927) ist von der tschechischen Künstlerin Milada Marešová, „Tanzen (Das Kabarett Excelsior) (1929) vom Spanier Josep Mompou Dencausse und aus Polen kommt Stefan Płużańskis „Cafe“́ (1934), die Grafik „Im Café Schwarz“ (1928) kommt von Sigismunds Vidbergs aus Lettland.

Das weite thematische Spektrum lässt die Besucher:innen zu Zeitreisenden werden, die innerhalb der Epoche nicht nur an verschiedene Orte gebeamt, sondern auch in verschiedene Gesellschaftsschichten katapultiert werden. Da sind die feinen Damen der Gesellschaft, die wohl situierten Manager in ihren Büros, die Angestellten, die Arbeiter, die Matrosen, die Straßenmädchen, die Sportler:innen, Wissenschaftler:innen und das alltägliche Volk. Wir begegnen ihnen im pulsierenden Nachtleben einer Stadt, wo in glanzvollen Etablissements getanzt wird, im Café, beim Boxkampf, beim Tennis und beim Schwimmen am See im Sommer, auf Skiern in den Bergen im Winter, im Park, auf der Straße, in ihren ärmlichen Behausungen und stilvollen Salons. Der Streifzug führt durch Themen wie Nachtleben, Sport, Freizeit, Wissenschaft und Technik, Armut, Menschenbilder oder die Neue Frau. Auch hier wird besonders wert gelegt, ein Korrektiv zur Ausstellung von 1925 zu schaffen und möglichst viele Frauen bzw. Künstlerinnen sichtbar werden zu lassen. Darunter befinden sich Aleksandra Beļcova, María Blanchard, Veronica Burleigh, Stina Forssell, Vilma Kiss, Milada Marešová, Ángeles Santos, Ekaterina Savova-Nenova und Gerda Wegener.

Dieser Überblick bringt Überraschendes zum Vorschein – nicht nur die verwandten Motive, sondern in einigen Fällen sogar verblüffende Ähnlichkeiten, wo die Bilder vom gleichen Atem beseelt worden zu sein scheinen. Das betrifft bspw. Peet Arens „Dame in Schwarz“ (1931) aus Estland und Alice Baillys „Frischer Morgen im Jardin du Luxembourg“ (1921). Beide zeigen junge Frauen in feinen schwarzen Mänteln mit Pelzkrägen und einen schwarzen Hut über ihre kurzen schwarzen Haare tragend. Auch wenn sie sich im Malstil unterscheiden, Baillys Bild tendiert zum Abstrahierenden, ist es doch faszinierend beide gemeinsam zu sehen. Noch eindringlicher sind Meredith Framptons „Marguerite Kelsey“ (1928), und Sergius Pausers „Dame in Weiß (Frau Beck, née Sokal)“ (1927). Die Bilder spiegeln sich beinah in Inhalt, Komposition und Farbpalette. Beide sitzende Frauen tragen schlichte weiße Kleider, die sehr kurzen schwarzen Haare sind eng anliegend, ihr Teint ist sehr blass. Die Wände im Hintergrund sind terracottafarben. Man fragt sich, ob Künstlerin und Künstler gegenseitig von ihren Arbeiten gewusst haben.

Ein charmanter Zug der Schau ist, dass sie gewisse Empfindsamkeiten der damaligen Gesellschaft aufgreift wie ihre Vorliebe für grüne Pflanzen, vor allem Kakteen. „Fenster zum Hinterhof“ (1933) der Schwedin Stina Forssell ist sehr schlicht, hat aber etwas sehr Heimisches und Privates. Noch dazu liegt etwas Vertrautes darin mit seiner Reihe von Kakteen auf dem Fenstersims einer Küche im obersten Stockwerk einer Mietskaserne und der Blick auf die gegenüberliegenden Häuser mit den gleichen Fenstern. Den meisten Großstädter:innen, vor allem in Berlin, Wien und Paris, wird dieser Anblick bekannt sein. Auch seine Alltäglichkeit macht es kurioserweise zu etwas Besonderem, da diese bildlich selten festgehalten werden.

Über all diese präsentierten Facetten gelingt es gut, den Zeitgeist der Epoche zu erhaschen, macht aber auch Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas dieses Jahr alle Ehre.

Mehr Texte von Sabine Schereck

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European Realities. Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa
27.04 - 10.08.2025

Museum Gunzenhauser
09119 Chemnitz, Stollberger Straße 2
Tel: +49 (0)371 488 70 24
Email: gunzenhauser@stadt-chemnitz.de
http://www.kunstsammlungen-chemnitz.de
Öffnungszeiten: Di, Do–So, Feiertag 11–18, Mi 14–21 h


Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
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rainer metzger | 12.06.2025 16:19 | antworten
die Mannheimer Ausstellung 2024/25 hatte auch eine Kuratorin: Inge Herold. Und der Titel war sehr bewusst "Die Neue Sachlichkeit"

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