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Die Zeit gibt den Ton an

In einem lavierten Blatt aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts tritt Chronos auf, die Allegorie der Zeit. Geschichte, so lässt sich an diesem Bild ermessen, lässt sich nicht als ruhendes Dasein fassen. Sie braucht eine dynamische, zukunftsfähige Figur. Markus Christoph Stadler, der barocke Zeichner des Blattes, deutet dies an. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts meinen wir einen muskulösen Ahnen zu erkennen, zwar mit langem Bart und ungepflegten Haaren, aber fit durch Kiesertraining, ein zäher Rentner mit resoluten Gebärden. Vorgeführt wird das gesellschaftspolitische Ideal jener, die das Arbeiten nach dem Pensionseintritt für selbstverständlich nehmen. Der barocke Mensch interpretiert das Bild wohl anders. Nach barocker Mentalität ist die Zeit nur als Vergehen und von ihrem Ende her zu denken. Chronos ist zwar forsch wie ein Kämpfer, aber herb wie ein Eremit. Nicht die Widerstandskraft des Greises wäre gesehen worden, sondern die Ähnlichkeit mit dem Gevatter. Zur Entstehungszeit des Bildes wäre wohl die Sense auffällig geworden und mit ihr das Ende, das uns allen bevorsteht. Vergänglichkeit vermittelt sich in einem zu Ende gehenden Leben, aber auch – und dies ist die Warnung – in jedem gelebten Moment. In diesem Sinne – im Sinne eines Memento mori und als Sinnbilder von (Lebens-)Anfang und -Ende – sind auch die Assistenzfiguren zu lesen. Was im rüstigen Alten in der Zeichnung komprimiert ist, Kindheit und Alter, wird im unteren Register auf zwei Nebenrollen verteilt. Ein Putto findet sich rechts am unteren Bildrand als Sinnbild des pausbäckigen Lebensbeginns. Der fleischige Knabe zieht einen Schädelknochen unter einem geknitterten Tuch hervor, so als würde sich in jedem Tand (und auch dem Stoff der Malerei, denn nichts anderes ist die Leinwand) die Verwesung verschanzen. Neben ihm, wie in Parallelverschiebung, wartet tatsächlich der Tod. Der Knochenmann streicht einen gebrochenen Pfeil wie einen Geigenbogen über das eigene Gerippe. Der Tod, der den Pfeil bringt, ist Teil der üblichen Ikonografie, auch die Lust am Morbiden ist zeittypisch. Die beiden kauern auf einer Treppe. Einzelne Wörter sind in die Stufen eingetragen. Es sind die Tage der Woche, die in absteigender Reihenfolge wiedergegeben werden. Ist dies ein Kalender, der Termindichte und Stundenpläne vorwegnimmt oder eher eine freie Allegorie des Winters? Schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall bezeugt sich in den Wochentagen der Kreislauf der Zeit, der wiederkehrende Gang der Geschichte. Noch grausamer als der Tod, so meinte Nietzsche in seinem unübertroffenen Defätismus, ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. Möglich, dass der Basler Altertumsforscher – hätte er das Blatt zu Gesicht bekommen – diesen Gedanken dem Bild entnommen hätte, mehr als den Schauer der Vanitas-Symbolik, den es eigentlich vermitteln will.

Doch das ewig Gleiche ist passé. Der gegenwärtige Kapitalismus ist von unermüdlicher Neuerung getrieben. Er scheint zu verwirklichen, was Hegel vor ca. 200 Jahren als gegeben betrachtete. Unermüdlich ist der Weltgeist auf dem Weg zu sich. Bewusstsein und Sein nähern sich an, spätestens heute scheinen sie amalgamiert. Hier ist nicht von KI die Rede, – auch diese wäre ein Symptom – , nein, es geht um den Beschleunigungsdruck und den Verlust der Möglichkeit zur ethischen Selbstbestimmung. Was die Geschichte antreibt, ist ein merkantiles Gewinnversprechen. Weil heute die Ware wichtiger als die Existenz ist, gibt die Zeit den Ton an, und der Tod, der eigentlich ihr Ende besiegelt, treibt sie nur noch mehr an.

Eines der notwendigen Durchgangsstadien des Weltgeistes findet sich in der Geschichte des Barock. Hegel, der geschichtlich Denkende, zeigt sich im Rückblick ebenso anerkennend wie kritisch. Der Barock sei ein Zeitalter der Religion und gelebter Bindung an das Testament gewesen, zugleich aber eine Epoche der Virtuosität und Wunderlichkeiten. Im Barock, so meint er, ringe sich das Geistige bereits zu unerwarteten Freiheiten durch. Zugleich blüht die Künstlichkeit.

Neben den Figuren prägen Geometrien das Bild. In ihnen bekundet sich ein abstraktes Prinzip, ein unanschaulich Geistiges, wenn man so will. Sie sind mit Lineal und Zirkel gesetzt, streng und unbeugsam, ganz im Gegensatz zur freien Bravour der Sepia-Zeichnung, die im Hell-Dunkel Muskel und Plastizität spielen lässt. In einen Kreis ist ein kleinerer eingetragen. Er zirkuliert als seichte Kugel in dem größeren Rund. Blass schwebt sie als Trabant über dem Muttergestirn, eine Demonstration barocker Mengenlehre. Ist die geometrische Abstraktion vorweggenommen, wie sie die Avantgarde des 20. Jahrhunderts für sich beanspruchen wird? Kann der Weltgeist, der später über die Polarität von Null und Eins regieren wird, sich hier bereits unter das Gewand der Rhetorik drängen? Oder finden sich Hinweise auf ältere Stufen wie archaische Bildbotschaften, die kosmische Kreisläufe andeuten? Oder handelt es sich um technische Übungen, in denen sich der Zeichner auf physikalische Experimente und wissenschaftliche Beweisführungen bezieht? Vieles davon ist möglich, ja sogar vieles zugleich.

Ähnlich wie heute, wo Algorithmen den Seinszusammenhang formatieren, findet das rationalistische Verfahren des Barock sein Recht in einer mathematischen Ordnung. Nach den Annahmen der damaligen Metaphysik liegt die Wahrheit des Weltganzen allerdings nicht im Automatismus von computerisierten Protokollen, sondern im Regelwerk der Geometrie. Sie behält, ja fordert sogar die Sichtbarkeit. So befindet zumindest jener Teil des Barock, der sich weniger von Künstlichkeiten beflügeln als von überprüfbaren Wahrheiten überzeugen ließ. Maßgeblich ist heute wie damals die Überzeugung, dass die Welt als ein logisches Gebilde gebaut wäre, es demzufolge eine Entsprechung zwischen Sein und Denken, zwischen Wirklichem und Vernünftigem gäbe. Allein die Idee, rationale Einsicht als Grundprinzip des Seins zu nehmen, findet ihre Letztbegründung in der vollkommenen Vernunft Gottes. Eine solche gibt es längst nicht mehr. Ist im Barock der Verstand Gottes a priori, so scheint heute die kapitalistische Wirtschaftsdynamik absolut gesetzt. Das heißt, vor jeder Zeitrechnung und unabhängig von historischer Entwicklung. Es ist dem sinnbildlichen Denken des Barock zu danken, dass sich der Widerspruch in diesem Blatt noch sichtbar ankündigt. Denn Chronos, als Allegorie in Menschengestalt, ist nicht mit der kognitiven Klarheit, der Idee von Kreis und geometrischer Ordnung vereinbar. Auch Klio wäre das nicht, die Personifikation der Geschichte. Und trotzdem versucht Stadler, der darin begabt ist, eine Verzahnung. Wird im Zirkel das Gedankliche, das Geistige gegenwärtig, so in der Malerei die Lebendigkeit der Rhetorik. Am deutlichsten wird diese Doppelsinnigkeit der Linie an dem Schwung des Sensenblattes, — einerseits schauerliches Werkzeug, andererseits gezirkelter Kreisausschnitt. Demnach gehört die Klinge beiden Welten an, dem Ringen nach dem Geistigen ebenso wie einer künstlerischen Virtuosität (und Individualität). Die Ambivalenz wird noch an einem anderen Objekt deutlich. Es ist das Stundenglas. Freilich, es ist ein ebenfalls gängiges Attribut. Doch die Sanduhr verbindet zwei trichterförmige Gläser und trennt sie doch, ähnlich wie die Vergangenheit von der Zukunft abgeschnitten ist. Während das obere Glas das Gewesene anzeigt, so das untere die Zukunft, die sich bereit zeigt, sich mit dem Geschichtsmaterial des Verstrichenen zu füllen. Das Jetzt ist nichts anderes als das flüchtig bewegte Rinnsal, das durch die Verengung rieselt. Wer nun das Stundenglas dreht, stellt die Zeitenfolge auf den Kopf. Wer dies vorhat, versucht vergeblich, die Vergangenheit zurückzuholen oder übergibt die Verantwortung an die ewige Wiederkehr ab und findet auch keine befriedigende Lösung, wie der gottferne, fatalistische Nietzsche.

Dieser Tage wurde ein Bild bei Sotheby's versteigert. Die Skizze, die angeblich auf einer Scheune gefunden wurde, wird Anthonis van Dyck zugeschrieben. Sie zeigt einen alten Mann. Aufgrund der Ähnlichkeit zu einem Gemälde wird das Bild als Studie für den Heiligen Hieronymus angesehen. Anders als der Rüstige auf dem Chronos-Blatt ist Hieronymus sichtbar vom Alter gezeichnet. Sein Körper ist schlaff und matt. Die Muskeln zeugen noch von früheren Energien, nun hängen die Arme kraftlos am Körper. Van Dyck malt in rostigem Rot. Den Körper modelliert er wie ein helles Sgraffito aus dem dunklen Grund. Nicht nur die Falten an Bauch und Brust ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, auch die Züge des Gesichts. Der Kopf ist gesenkt, die Stirn betrübt, allein diesem Alten ist eine denkerische Kraft gegeben, eine Weisheit, die sich in seinem Philosophenkopf mitteilt. Dieser Mensch bedarf nicht nur der Pause, er weiß auch um sein Ende. Es ist ein zwar kraftloser, aber machtvoller Entzug aus dem Treiben der Beschleunigung. Schade ist, dass über dieses Bild nicht mehr diskutiert wird als sein möglicher Tauschwert am Kunstmarkt.

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Abbildungen:

Markus Christoph Stadler: Chronos, Privatsammlung Wien

Anthonis van Dyck: Studie Heiliger Hieronymus, ca. 1620, Auktionshaus Sotheby's.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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