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Mirella Bentivoglio: Produktive Archäologie

Wer „Nein“ sagt, leistet Widerstand. Nein zu sagen heißt, sich selbst als Subjekt zu behaupten. Es bedeutet einen Anspruch auf Eigenständigkeit. Deshalb liegt dem Vermögen, Nein sagen zu können, eine subversive Kraft inne.

In der ältesten der Arbeiten von Mirella Bentivoglio, die in der Galerie Hubert Winter gerade ausgestellt sind, findet sich ein solches „Nein“ in großen Lettern aus Holz auf eine Tafel gesetzt. Ein lautes, bestimmtes, italienisches „NO“ hallt denjenigen, die mit dem lateinischen Alphabet vertraut sind, entgegen. Die Buchstaben sind von einfacher Form, serifenlose Balken, und von gleichen Proportionen wie das Bildformat, so dass Schriftbild und Bildträger miteinander harmonieren. In den schmalen Spalt zwischen O und Bildrand ist ein kleines i eingeschoben, klein zwar, und am Rand, aber aufrecht und mit festem Umriss, es ist weder gequetscht noch rutscht es ab. Die Komposition erhält dadurch Dichte, Rhythmus und Spannung. Man liest: NOi. Italienisch für „Wir“, es erlaubt auch die englische Leseart „No I“ – „Kein Ich“. 

Das Werk von 1966 trägt den Titel Socièta di massa, er ist unten links in Schreibschrift auf das Bild aufgeschrieben. Entstehungszeit, Titel und ein wenig Wissen über Bentivoglios Einsatz als Förderin von Künstlerinnen stellen die Arbeit in den Kontext der Frauenbewegung der 1960er-Jahre. Bilder von Massen in den Straßen, gerüstet mit Schildern und der Klang der Vielen, die einstimmig Parolen schmettern, werden aufgerufen. Präsent ist das Verschwinden des Individuums in der Menge, der Abstieg zur Randfigur, während die laute Gruppe des „Wir“ aufsteigt zur festen Größe. So gesehen stellt sich Socièta di massa als politischer Akt dar, als Selbstbehauptung, Widerstand. Es muss aber beachtet werden, dass diese politische Stoßrichtung keinesfalls präzisiert wird. Vielmehr bleibt es bei Grundlegendem: dem Recht, Nein zu sagen; dem Zusammenschluss zu einem „Wir“ und der Abgrenzung nach Außen; dem komplexen Verhältnis von Schrift, Sprache und Bild zu Bezeichnetem und Abgebildetem. Das ist es, was das Werk Bentivoglios zeitlos macht, und so auch die Ausstellung, die Beispiele ihres Schaffens aus fünf Jahrzehnten zusammenstellt.

Das Interesse an Grundlegendem zieht sich über alle Arbeiten hinweg und immer ist es dabei nicht abstrakt gedacht, sondern immer an eine Form des Ausdrucks gebunden. Sei es das in mehreren Werken erkennbare Umschreiben vom Ursprung, niedergeschlagen in der Figur des Eis. Sei es die Entstehung von Bedeutung und die Funktionsweise von Zeichen, das sich in der Verdoppelung von Sein und Abbild wiederfindet (Lapide alla scritura poetica (scrivere coi piedi, 1977). Sei es die Bildlich- oder sogar Körperlichkeit des Alphabets, besonders des „e“ oder „o“, deren verbindende und trennende Funktion als Konnektor und Disjunktor bei Bentivoglio eine bildliche Ausdrucksweise finden.

Oft ist das Schriftzeichen als Bedeutungsträger wichtig für das Werk. Oft auch ist der phonetische Aspekt mitgedacht. Sehr oft löst sich Bentivoglio aber auch vom lateinischen, letzten Endes menschlich-konstruierten Schriftzeichen und sucht nach Bedeutung im sinnbefreiten Konkreten, vor allem Stein als Naturstoff. Sie wirkt dabei nicht nur suchend, sondern vor allem schaffend, und immer sehr gewitzt.

Mehr Texte von Victor Cos Ortega

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Mirella Bentivoglio
23.02 - 25.03.2023

Galerie Hubert Winter
1070 Wien, Breite Gasse 17
Tel: +43 1 524 09 76, Fax: +43 1 524 09 76 9
Email: office@galeriewinter.at
http://www.galeriewinter.at
Öffnungszeiten: Di-Fr: 11-18h
Sa 11-14h


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