Piktorialismus. Die Kunstfotografie um 1900: Aus der Zeit gefallen
Von einer dunklen Rückbank in einem bräunlich gehalten Interieur hebt sich in erdfarbene Gewänder gehüllt ein Knabenkörper ab. Sein Gesicht in helles Licht getaucht, richtet er seinen ernsten Blick auf den Fotografen und uns als Betrachter. Die Hand um eine kaum sichtbare Lehne geschlossen blitzt in weißem Inkarnat auf. Es ist dies eine Porträtaufnahme von Paul Schwind, entstanden 1908. Fotografiert von Heinrich Kühn, einem wesentlichen Vertreter des österreichischen Piktorialismus. Kühn verarbeitet in diesem Kinderporträt Einflüsse der amerikanischen Kunstfotografie, insbesondere von Alfred Stieglitz, den er persönlich kannte und der seine Arbeiten und die der Wiener Kollegen Hugo Henneberg und Hans Watzak 1906 in der Gallery of Photo-Secession in New York präsentierte.
Der Piktorialismus - die Kunstfotografie um 1900, hier insbesondere in Wien - ist Thema der großen Überblicksschau, mit der die Albertina Modern in das neue Jahr startet. Gezeigt wird die wissenschaftlich aufgearbeitete Dauerleihgabe der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt, die im Jahr 2000 an die Albertina übergeben wurde. Ergänzt wurde die Sammlung um eigene Objekte aus der Albertina-Sammlung und Exponate aus weiteren Sammlungen. Diese runden die hochkarätigen, innovativen Beispiele von Landschafts- und Studiofotografie der 1870er Jahre bis zu den Ausläufern der 1920er Jahre ab.
Der Piktorialismus in Österreich hatte zum Ziel die Fotografie neben der Malerei und der Zeichnung als gleichwertige und eigenständige Kunstform zu etablieren. Man bediente sich dabei neuester Druckverfahren wie des Bromöldrucks oder des Gummidrucks um in der Auflösung des Abzugs möglichst malerische Effekte zu erzielen. Besonders die neuen Techniken ermöglichten den Fotograf:innen unscharfe Konturen, Hell- / Dunkel Abstimmungen, Lichtstimmungen wie Dämmerungen sowie Gewitterwolken. Auch werden in der Ausstellung die englischen Einflüsse der 1870er Jahre dokumentiert, deren plein air Fotografie und Porträtfotografie für Wien maßgeblich waren. (Henry Peter Emerson, Julia Margret Cameron u.a.)
Um 1900 war das Fotografieren noch ein sehr teures Verfahren, sodass nur die wohlhabenden Schichten und der Adel sich dieses Vergnügen leisten konnten. Darum wurden Vereine gegründet, um gemeinsam Ausstattung zu benützen und verleihen zu können. 1887 war es in Wien der Cameraclub, in dem alle damals namhaften Fotograf:innen tätig waren.
Ein beliebtes Genre von Amateurinnen und Amateuren war auch die Reisefotografie:: Nathaniel von Rothschild, der ein wesentlicher Geldgeber des Camaraclubs war, verfügte über ein eigenes Fotostudio und bereiste den Orient, wobei reizvolle Sujets entstanden: „Im Säulenhof des erzbischöflichen Palais in Algier 1893“, z.B.
Mit der Katastrophe des Ersten Weltkrieg endete allerdings die wohlhabende Exklusivität der großbürgerlichen Kunstfotografie.
1888 wurde die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt gegründet, die zu einer Professionalisierung der Kunstfotographie beitrug und die ästhetischen Lösungen der Amateurfotografie fortschrieb. Besonders unter ihrem Lehrer Rudof Koppitz experimentierte eine Schar von Schüler:innen und wurde schließlich selbst berühmt: Unter ihnen war Dora Kallmus, die 1907 das Fotostudio d´Ora in Wien gründete, 1925 erwarb Sie ein zweites Atelier in Paris, in das sie dann 1927 endgültig zog. Das Wiener Fotostudio betrieb nach ihrem Ausscheiden weiterhin ihr Kollege Arthur Benda. Es war bei der Wiener Bourgeoisie ein äußerst gefragtes Atelier. Es war schick sich von d´Ora fotografieren zu lassen. Gekonnt spielte Kallmus mit Posen des Jugendstils und später der wilden 20er Jahre.
In der Ausstellung sind auch mehrere Fotografien von Rudolf Koppitz zu sehen, die sich in unser kollektives Gedächtnis zur Studiofotografie der 20er Jahre eingeprägt haben. Der expressive Köperausdruck, die Emotionalität zwischen Verzweiflung, Wahn, Unheil, wie wir sie auch von den Bildern von Egon Schiele schon etwas früher kennen, kommt hier zum Tragen.[1] Auch die tänzerischen Bewegungen der Protagonistinnen entsprechen den damals neuesten Entwicklungen (Grete Wiesenthal). Diese Fotografie versteht sich tatsächlich als Kind ihrer Zeit und ringt um künstlerische Ebenbürtigkeit mit der Malerei.
Zu den Schüler:innen von Koppitz zählten auch Trude Fleischmann und Franz Xaver Setzer, um hier nur die Bekanntesten zu erwähnen.
In den 20er Jahren entwickelten sich die Kameras technisch weiter und wurden leichter einsetzbar. Sie waren in ihrer Anschaffung auch nicht mehr so exorbitant teuer. Vom Bauhaus kamen neue Aufnahmeideen, ausgelöst durch Lázló Moholy-Nagy und Alexander Rodschenko. Die Fotografen probierten neue Blickwinkel und abstrahierten ihr Formenvokabular. Die Stilrichtung der „Neuen Sachlichkeit“ begann sich zu etablieren. Diese zeigt sich auch im Bemühen des Fotografen um eine gewisse Objektivität des Dargestellten.
In diesem Zusammenhang ist der Fotograf Drahomir Josef Ruzicka zu nennen, der New York in all seinen Facetten ablichtete. Der gebürtige Tscheche wächst in Amerika auf und studiert in Wien Medizin, geht aber wieder zurück in die Staaten. In akribischen Studien hält er die Hochhäuser und die Straßen der Stadt fest. Seine berühmtesten Fotografien entstehen im alten New Yorker Bahnhof Pennsylvania Station mit ihrem markanten Lichteinfall.
Diese Ausstellung der österreichischen Fotografie um 1900 zeigt die enorme Qualität der Werke der hier präsentierten Künstler, ihre internationale Vernetzung und ihre Empfindsamkeit gegenüber den Strömungen ihrer Zeit. Es ist dem Team um Astrid Mahler zu danken, dass dieser Schatz gehoben wurde.
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[1] Es gibt in der Ausstellung zwei bemerkenswerte Porträts von Egon Schiele von Anton Trcka von 1914. In beiden Abbildungen legt der Porträtierte den Akzent auf die Gestik seiner Hände und unterstreicht damit das inhaltliche Element.
04.02 - 23.04.2023
Albertina Modern
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