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Anna Jermolaewa - Number Two: Politalltag einer Zeitzeugin

Aus Number Two ist Number One geworden! Die 1970 in St. Petersburg geborene Künstlerin Anna Jermolaewa, vertritt im Jahr 2024 offiziell Österreich auf der Kunst-Biennale in Venedig. Die Wahl erscheint mehr als zeitgemäß. Jarmolaewas Kunstpraxis durchzieht wie ein roter Faden, der Gedanke des rebellischen Realen alias zivilen Ungehorsams ohne – wie es in dem Katalogtext zu ihrer aktuellen Retrospektive im Linzer Schlossmuseum resümiert wird – „das provokante Körperpathos der Avantgarden in Anspruch zu nehmen“. Nichtsdestoweniger fällt es nicht gerade leicht, ihre aktivistischen Tätigkeiten von ihrer Kunst zu trennen, da sie als getriebene Zeitzeugin unentwegt auf Reisen zugleich profunde dokumentarische Recherchen unternimmt.

Anna Jermolaewa lässt in ihren Videoproduktionen, Fotografien, Zeichnungen und multimedialen Installationen, die auch diesmal ihre umfangreiche Personale bestimmen, vorerst das Phänomen des etwas ins Verschwinden geratenen sowjetischen Dissidententums aufleben. Dieses bezieht seine Antriebskraft aus der Geschichte und den Gepflogenheiten ihres postkommunistischen und postsowjetischen, autokratischen Herkunftslandes und ihren jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und ästhetischen Materialisationen, die nicht zuletzt um die globale conditio humana punktuell erweitert werden. Jermolaewas multimediales Schaffen prägt also ausschlaggebend ihre zwischen zwei verschiedenen Politsystemen gelebte Biographie, die in der Öffentlichkeit mit der Mitbegründung der ersten oppositionellen Partei der Sowjetunion, einer Parteizeitung und der Beteiligung an friedlichen Protesten gegen das Regime begann, und mit einer Flucht 1989 in den Westen über Krakau ihr Ende fand, um ein neues Kapitel, diesmal im Exil als Asylantin und bildende Künstlerin in Wien zu starten.

Mit unnachgiebiger Konsequenz werden in Jermolaewas Videos und Fotografien wie Fahne, The Doubles, Number Two, Gulag, The Chernobyl Safari, Hermitage Cats, Fünfjahresplan sowjet-russische sozial-politische Eigentümlichkeiten und Sachverhalte ernst, spielerisch-chaplinesk und dann wiederum listig-humorvoll für ein breites Publikum verständlich und analysierend kommentiert. Für Aufregung des Letzteren sorgte vor Jahren ihr Selbstporträt mit Putin als fesche Wachsfigur, das die Künstlerin offensichtlich staatstragender als den Diktator selbst zeigt. Mit einer bewundernswerten Knappheit der künstlerischen Mittel wie in der erwähnten Fotografie, ihrer dialektischen Logik evoziert sie insofern bei Betrachter:innen Gefühle der Unruhe und ein teilweise verblüffendes Aha-Erlebnis. Dabei schreiben sich ihre Images in das kollektiv-visuelle Gedächtnis schnell und reibungslos ein, da sie an der Basis populärer Konventionen konstruiert sind. Entscheidend wirkt allerdings ihre oft unerwartete, hochintelligent-konzise Volte.

Im Sinne der Künstlerin erscheint, wie sonst auch bei ihren Ausstellungen, die Inszenierung ihrer Werke im Schlossmuseum unbeschwert lässig, im Stil einer „Home Art“ oder Home Movie Inszenierung. Videos und Fotografien werden wie Puzzleteile ihrer Kunst und des Lebensweges freistehend im Raum arrangiert und manche mit gebrauchten Sitzgelegenheiten aus verschiedenen politischen Epochen angeordnet. Man wird aufgefordert, die Möbel zu benutzen, sich zu setzen statt stumm vor einem Bildschirm zu stehen. Vier Videos, die The Doubles (2021) heißen und Interviews der Künstlerin mit vier professionell öffentlich auftretenden Doppelgängern der weltberühmten russischen und sowjetischen Regime, wie Lenin, Stalin, Gorbatschow und Putin vorführen, markieren eindeutig das Herzstück Linzer Show. Alle von diesen Interieur-Settings befinden sich auf orientalischen oder östlichen Teppichen (möglicherweise aus Samarkand), womit sie, nicht ohne Ironie, die gemütlich-private Atmosphäre im Kontrast zur Welt dort draußen hervorheben. Man betritt durch die Ausstellung flanierend diese geistigen Orte, wie imaginäre Zimmer- und Zeitkapseln, und fühlt sich in sie eingebettet wie zu Hause. Ebenso absurd wie erstaunlich erscheint dabei die Tatsache, wie sehr das postsowjetische Volk an seinen autokratischen Diktatoren immer noch hängt und sie im kollektiven Gedächtnis als Subjekte von Träumen und eines utopischen Potenzials einwandfrei kultiviert.

Zum Schluss gibt es auch eine neue Arbeit. Sie besteht aus einer 3 Kanal-Videoinstallation, die Jermolaewas dauerhaftes Interesse für gewaltlosen Widerstand und friedliche Proteste bezeugt, das sie bereits in Methods of Social Resistance on Russian Examples (2012) oder Political Extras (2015) künstlerisch zu Sprache brachte. In der Singing Revolution betreibt sie etwa das Reenactment der Massenprotestbewegungen in Baltischen Staaten am Ende der 80er, wo die Menschen zusammenkamen, um gemeinsam ihre Forderungen nach Unabhängigkeit von der Sowjetunion öffentlich zu besingen. Automatisch denkt man bei diesem Werk an den die Gänsehaut hervorrufenden Film von Marta Górnicka Grundgesetz, ein chronischer Stresstest, der zuletzt auf der Biennale in Lyon gezeigt wurde. In ebenjenem singen ebenfalls ein Chor und Unterchöre bestehend aus Amateur*innen und Schauspieler-Profis of all genders and colours, die deutsche Verfassung vor dem Brandenburger Tor, das Symbol der Teilung Deutschlands in West und Ost, also 28 Jahre nach dem Tag der deutschen Einheit. Sowohl die Filmproduktionen von Jarmolaewa als auch von Górnicka zeigen einen vereinigten Widerstand der Kollektive und Individuen zugleich. Wir sehen den Chor hier in der Rolle „des Volkes“ und wir erfahren seinen souveränen Willen. Starke Stücke sind diese beiden Chor-Filme und zugleich fragil, könnte man meinen.

Auch wenn die Kunst von Anna Jarmolaewa poetisch-melancholisch sein mag, ist sie im westlichen Sinne, im Kern politisch. Jedenfalls lässt sie sich auch nicht als solche bloß leicht abfertigen oder glätten. Obwohl die Künstlerin ihr Land zur richtigen Zeit hinter sich gelassen hat, wird sie und mit ihr das Publikum aufgrund der Globalisierungsprozesse, gegenwärtiger Konfliktlagen und dem Krieg und darin den erschreckend vernichtenden Allüren des russischen Postimperiums immer wieder mit dem Autokratisch-Unerträglichen konfrontiert. Daher sind Jermolaewas Signale, Visionen und Beobachtungen das beste Verständnis dessen, was Intuition bedeutet.

Mehr Texte von Goschka Gawlik

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Anna Jermolaewa - Number Two
23.11.2022 - 05.03.2023

Schlossmuseum Linz
4020 Linz, Schlossberg 1
Tel: +43-732 77 20-52502
Email: info@ooelkg.at
http://www.ooekultur.at
Öffnungszeiten: Di-So, Fei 10-18 h


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