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Matt Mullican - Mapping the world. 50 years of work: Die Welt ist nicht genug

Es ist kaum zu glauben: Seit mehr als 50 Jahren war Matt Mullican in unzähligen Ausstellungen in großen Museen präsent, wird von wichtigen internationalen Galerien vertreten und hatte trotzdem bis vor kurzem noch keinen einzigen Kunstpreis bekommen. Das ist jetzt dank der Possehl-Stiftung in Lübeck anders, denn am 27. Oktober konnte Mullican den mit 25.000 Euro dotierten Possehl Preis für internationale Kunst entgegennehmen. Gleichzeitig wurde auch die mit dem Preis verbundene Ausstellung mit dem Titel „Mapping The World - 50 Years of Work“ in der St. Annen Kunsthalle Lübeck eröffnet. Als müsste man das Versäumnis einer späten Preisvergabe kompensieren, taucht bzw. tauchte Mullican auch an weiteren Orten in Lübeck auf, so von Juli bis Oktober mit einem Five Color Garden, einem großen Blumenbeet nach dem Muster eines seiner zentralen Motive jenes Zeichensystems, mit dem Mullican seine Weltsicht darlegt.

In St. Petri Lübeck, der „Kirche am Nullpunkt der Religion“ (Eigendefinition), war ein großer Teil von Mullicans „Berliner Block“ zu sehen. Die insgesamt mehr als 200 in Berlin entstandenen, schwarz-weißen Bildträger deklinieren sein Zeichensystem auf unterschiedlichen Ebenen durch. 126 davon sind in der Kirche zu sehen. Jedes „Bild“ misst rund 2x2 Meter, aufgezogen auf sechs Meter hohen und vier Meter breiten Leinwänden, die an die Säulen des Kirchenschiffs gelehnt wurden, bilden die Leinwände den Sakralraum quasi nach und werden von den Säulen und dem gotischen Gewölbe eingefasst. „This is my Richard Serra“, so Mullican zur Installation die für ihn eine besondere Situation darstellt, denn Religion spielt in seinem Universum eine bedeutende Rolle in dem Sinne, dass Mullican es den Betrachter:innen ermöglichen will, auf sein Zeichensystem jede „gesellschaftlich relevante Glaubensstruktur zu projizieren“. Auf den „Billboards“ so wie er sie nennt, finden sich unter anderem Organisationsstrukturen aus der Realwelt, Auszüge aus Comics, mit denen sich Mullican am Beginn seiner Karriere intensiv auseinandergesetzt hat, Baupläne und fantastische Landschaften. Mullicans universelle Kosmologie der möglichen Formen von Wahrnehmung der uns umgebenden physischen, aber eben auch geistigen Welt, findet in der Kirche ihre sakrale Überhöhung.

In der Kunsthalle St. Annen geht es etwas profaner zu. Hier versammeln sich auf vier Ebenen Arbeiten aus allen Schaffensphasen, beginnend bei den Studientagen an der CalArts bei John Baldessari bis zur Installation „Representing The Work“, in der Mullican ähnlich wie schon im „Berliner Block“ einen Einblick in seine Gedankenwelt gibt. Fotografien, Skizzen, Zeichen bauen ein Referenzfeld auf, das frühe Arbeiten mit aktuellen Produktionen verbindet.

Im Untergeschoss sind es Bildschirmarbeiten, die Mullicans frühe Auseinandersetzung mit digitaler Kunst und virtueller Realität belegen. Die Überlagerung von Fiktion und Realität ist ein zentrales Thema im Werk Mullicans die sich ebenfalls in seinen Hypnose-Performaces wiederfindet, in denen er ausgehend von einfachen alltäglichen Handlungen formale und subjektive Repräsentation unserer Wahrnehmung von Welt in einen Zustand der Trance überführt. Das Erdgeschoss präsentiert einen Abriss der frühen Entwicklung des Werks Mullicans, von den Comicarbeiten, die Entstehung des Strichmännchens Glen, grafische Arbeiten und die ersten Piktogramme, mit denen er die Basis unserer Orientierung in der Welt und unseres Denkens in Wörtern, Bildern oder Gefühlen hinterfragt. „Representing The Work“, die 64-Teilige Installation in der Mullican die Selbstreferentialität seiner Kunst auf die Spitze treibt, beherrscht die gesamte Ebene eins. Überall finden sich Zitate und Referenzen aus allen Schaffensphasen, die der Künstler in einem permanenten Prozess des Re-Mixens auf neue, mögliche Bedeutungen hin untersucht.

Im obersten Stockwerk gibt Mullican seiner Sammelleidenschaft eine raumbestimmende Form. Seit vielen Jahren sammelt, katalogisiert und ordnet er allerlei Fundstücke oder Zeitungsausschnitte als Elemente seiner Forschungen. Hier präsentiert er kein eigenes Werk, sondern 449 Magnesiumplatten mit Auszügen der Encyclopédie des französischen Gelehrten Denis Diderot. Dieses umfassende, auf industriellen und wissenschaftlichen Fortschritt ausgerichtete Werk steht eigentlich im Gegensatz zu Mullicans Kunstauffassung und dokumentiert sie damit umso stärker. Kunst die heute entstehe oder in der Zukunft, so Mullican, sei nicht fortschrittlicher als Kunstwerke, die vor mehreren hundert Jahren geschaffen wurden. Die Buchstäblichkeit einer zweckgerichteten Kunst konterkariert er mit feinen Glasarbeiten, die auf die Transzendenz zwischen geistiger und physischer Welt, auf Dämonen, Gott und Teufel verweisen, und gleichzeitig die Optik wissenschaftlicher Instrumente imitieren.

Gegenüber geht es dann wieder um das Ganze: Die für Mullican typischen Diagramme, die seine „Fünf Welten“ und die typische Farbcodierung in Gelb/Blau/Grün/Rot/Schwaz repräsentieren. Von der Subjektivität, über die Zeichenwelt, die „gerahmte Welt“ der Ideen, die „ungerahmte Welt“ des Alltäglichen bis zur Substanz alles Dinglichen. Matt Mullican zerlegt die Welt nicht, um sie in wissenschaftlicher Manier zu analysieren oder zu vermessen, vielmehr breitet er seine Elemente in immer weiteren Variationen auf, damit wir uns ein Bild davon machen können, wie wir uns ein Bild von der Welt machen.

Mehr Texte von Werner Remm

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Matt Mullican - Mapping the world. 50 years of work
30.10.2022 - 08.01.2023

Kunsthalle St. Annen
23552 Lübeck, St. Annen-Str. 15
Tel: +49 451-1224137
Email: mq@luebeck.de
https://kunsthalle-st-annen.de/
Öffnungszeiten: 01.01.-31.03.: 11-17 h
01.04.-31.12.: 10-17 h


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