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Sweet Politics

Während uns die aktuellen Preissteigerungen für unser alltägliches Leben wie böse Dämonen überwältigen, bietet die 16. Lyon Biennale zwischen stark politisiertem Berlin und Skandalen in Kassel, oder dem in die Vergangenheit orientierten Venedig ein emotional erlösendes, abwechslungsreiches Medienspektakel für das breite Publikum: Mit beachtlicher Vielfalt an der westlichen Kunstgeschichte verpflichteten Themen und Bildern sind in der Stadt zwischen zwei Flüssen an 12 verschiedenen Orten auch mysteriöse irdische Geister und himmlische Gestalten (nicht selten mit Flügel versehen oder mit Moos bedeckt) sowie und vor allem allerlei antike Gottheiten in Weiß (Niobe, Kore usw.) – entlehnt aus den archäologischen und historischen Museen Lyons – omnipräsent. Es scheint, als wolle man mit einem Funken Hoffnung der heutigen desolaten Weltlage entgegenwirken, die sich instabil, zerbrechlich, unruhig und im Wandel begriffen anfühlt. Es wird eine breit vernetzte Sicht- und Erzählperspektive in der spätkapitalistischen Welt präsentiert, die sich eklatant anders mitteilt als diese, die man auf Biennalen der letzten Jahre zu sehen bekam. Und was soll in Lyon so anders wie andernorts sein? 

Zuerst hat sich das inzwischen zur Chefetage des Hamburger Bahnhofs avancierte Kuratorenpaar Sam Bardaouil und Till Fellrath unter dem herausfordernden Biennale-Motto „Manifest der Fragilität“ als Ausgangspunkt ihres Konzeptes auf die Stadt Lyon und ihre koloniale und postkoloniale Geschichte konzentriert. Weiteres werden als Ausstellungsorte eher Innenräume als Plätze im öffentlichen Raum bevorzugt, als wollte man dadurch die aktuelle Gefühlslage des Momentanen in verschiedenen Zeitkapseln intensivieren. Die privilegierten Orte des Ausstellens sind mit sozialen, politischen oder ökonomischen Mikro-und Makrogeschichten quer durch die Zeitepochen aufgeladen wie z.B. die Marienkapelle in der Basilika Fourviére, die ehemalige Autofabrik (Usines Fagor) und zahlreiche historische und archäologische Museen wie Lugdunum, Musée Guimet oder de Fourviere, die das Abbild der globalisierten Kulturgeschichte aufbewahren und um die 220 Beiträge zeitgenössischer Künstler*innen durch die Integration ihrer Werke mit den ausgestellten Exponaten erweitert oder um neue Einsichten bereichert werden. Ob solche Masse immer Klasse hat? Diese heuer oft gestellte Frage lässt sich ganz eindeutig nicht beantworten, weil wir uns in der Ära des Posthumanismus und allumfassenden Hyperästhetismus befinden, vermutlich gerade am Weg zu einer neuen Auffassung von uns selbst und unserer Rolle samt ideologischer Neuplatzierung im Universum. Für die zwei-Tage-Besucher:innen ist die Biennale möglicherweise übergroß, für die Einheimischen vermutlich deswegen grandios. Zum Dritten legen die Kuratoren nahezu wie Joris-Karl Huysmans in seinem weltberühmten Dekadenz-Roman „Gegen den Strich“ auf die passionierte Schwäche und in dem Fall auf die Fragilität alias Verwundbarkeit als das süße Gift der Ohnmacht als Widerstand und im übergreifenden Sinn als geltende ästhetische Kategorie besonderen Wert.

Diesbezüglich überraschend präsentieren sich die ergreifend übergroße, meist installativen Kunstwerke mit ihren oft ausgefallenen Displays in den 15 Meter hohen Fagor Fabrikhallen. Gleich am Anfang empfängt die Besucher*innen die extreme, 50 Meter lange Ölmalerei Staatenlos der neu entdeckten Französin Sylvie Selig (*1941), die bis dahin lediglich als Buchillustratorin bekannt war. In ihrem monumentalen Fresko erzählt die Künstlerin farblich lebendig und figurativ mit expressiver Verve über das inhumane Fatum einer jungen Frau auf der Flucht aus ihrer Heimat, mit einigen Zwischenszenen, darunter das Auftreten von Songwriter Bob Dylan. Parallel dazu exponieren sich auf einem Laufsteg wie gestrandete Schiffbrüchige 28 heterogene Mannequins - Weird Family (Seltsame Familie) - die aus Puppenteilen und organischen Materialien hergestellt wurden. Dazu kommen noch dutzende von Seligs Stickbildern. Also ein riesiger Aufwand zum Thema der Fragilität.

Auffallend bei dieser Biennale sind jene Werke, die man als niedlich oder sweet bezeichnen könnte, obwohl ihre Narrative auf ernsthafte politische, soziale und ähnliche Krisen und Turbulenzen hinweisen. Vom Geist der Verantwortung geprägt ist der humorvoll-unterhaltsame Videofilm des Portugiesen Gabriel Abrantes (*1984). Dieser handelt von einer Louvre Statue, die aus dem Museum flieht und sich auf einer Demo, schlussendlich mit unangenehmen Konsequenzen wie einem Beinbruch engagiert. Vergleichbar absurd, humorvoll und als vergnügliche Belehrung ist die Rauminstallation von Puck Verkade (*1987). Sie besteht aus übergroßen Papp-Pommes von denen einige als Sitzbänke dienen und dem Video Plaque über unsere akute Klimakrise. Darin sinniert eine Fliege über die Ausrottung des Menschen und daraus folgend macht die Animation auf die verheerenden Verbindungen von geistigen und ökologischen Zusammenbrüchen aufmerksam. Das Ganze basiert auf einem Konzept der Solastalgie, einem Gefühl des schmerzvollen Verlustes einer vertrauten Umgebung. Es bleiben also nur Pommes. Kaum mit einem Blick zu erfassen ist die überdimensionale von arabischen Mustern inspirierte Bodenarbeit von Dana Awartani, die damit die Ruinen von Aleppo würdigt. Die Ökofeministin Sarah Del Pino (*1992) zeigt dagegen in ihrer von Dunkelheit dominierten Rauminstallation, mit schwarzem Asbest ausgelegtem Boden das Innere einer Asbestmine und darin arbeitende Männer als Orte gegenseitiger Destruktion: Der Natur und des Mannes. In der Lagerhalle von Fagor beeindruckt die Rauminstallation der Hamburgerin Annika Kahrs (*1984) durch ihre Sinnlichkeit und ihren Schwung, kollektives Agieren und unerwartete Verbindungen zwischen Musik, Tischlerhandwerk und Seidenproduktion im Grenzbereich zwischen Video, Installation und Musik. Das Video Le Chant des Maisons mit zahlreichen Musiker:innen wurde in der profanierten Saint-Bernard Kirche in Lyon aufgenommen.

Die märchenhafte Figuren und Dichtung, äsopische Fabelwelten in literarischer Form begleiten uns öfters auf dieser Biennale, so auch im macLyon, wo auf der dritten Etage die Zerbrechlichkeit „als Quelle generativen Widerstands und als einzige gemeinsame Wahrheit, die uns verbindet“ am Beispiel des Einzelschicksals der Seidenweberin Louise Brunet (The many Lives and Deaths of Louise Brunet) besonders eindringlich beleuchtet wird. Anhand dieser weiblichen Figur, die halb fiktiv und halb real erzählt wird und die sich 1834 einer Revolution der Seidenweber angeschlossen hatte und danach eine strapaziöse Reise in den Libanon unternahm um ihr Anliegen fortzusetzen, will man zugleich die Stimmen der vergessenen und marginalisierten Individuen in Erinnerung bringen. Die amerikanische Malerin Jesse Mockrin (*1981) hat ein Porträt mit dem Titel „Between Desire und Dread“ angefertigt, das die Lust einer jungen Frau am „empowerment“ thematisiert. Es besteht aus vielen von historischen Meisterwerken angeeigneten und subversiv zusammenkompilierten Fragmenten, Konventionen der Bildquellen hinterfragend. Gleichermaßen durch und durch assoziativ und beeinflusst von Derridas „Hauntology“ arbeitet auch Leo Fourdrinier (*1992, Paris), dessen unheimlich-verspielte Objekte und Malereien fast jedes Biennale-Sujet begleiten. Dear Mister Shakespeare, ein Film über Frauenpower und fluide Identitäten der kenianisch-britischen Filmemacherin Phoebe Boswell thematisiert visuell ansprechend rassistische Missverständnisse am Beispiel des afro-diasporischen Bewusstseins. Eigentlich ist aber die Entscheidung der Kuratoren, die junge Louise Brunet als Metapher für die Fragilität und Resilienz unser aller körperlichen und mentalen Seinsformen gelten zu lassen, ausgesprochen stereotyp und traditionell. Muss immer – besonders in unserer Gegenwart, in der Geschlechter-Identitäten und Körper allmählich fluid und transformativ wurden – immer noch eine junge Frau, ähnlich einer Johanna von Orléans, für alle Krisen und Wendungen dieser Welt als Leitmotiv stehen, auch wenn dies nur eine überlieferte Konvention ist? Wäre es nicht angebrachter, ein mehr mit der Jetztzeit korrelierendes Bild zu kreieren für diese breit gestreute sonst zum Großteil sehenswerte Biennale? Diese führt auch noch als Beispiel der Fragilität die vorher im Gropiusbau Berlin gezeigte Ausstellung Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility vor, bevor man zur dritten Teil des Biennalekonzeptes A world of endless promise weiterschreitet.

  Unter den 125 teilnehmenden Künstler:innen sind immerhin drei aus Wien: Philipp Fleischmann, Philipp Timischl und Markus Schinwald. Während Markus Schinwald eine abgekapselte Rauminstallation in Form eines Panoptikums in den Hallen von Fagor schuf, in der durch ihn im Verfahren des Morphings verarbeitete barocke Schlachtbilder unter digitalen Pixeln neben den weiß-medizinischen Gesichtsmasken mit Spuren von Einschüssen mehr oder weniger ihre ursprüngliche Visualität verlieren, integriert Fleischmann seine Filmskulptur, die vor allem durch Ihre Lichtsequenzen auffällt, unter den ausgestellten antiken Steinexponaten im Lugdunum. I have a terrible sense of humor – diese am Screen laufende Botschaft verkündet alle paar Sekunden die Arbeit von Philipp Timischl. Und er hat eigentlich Recht.

Lyon Biennale d’art contemporain
14 Sept - 31 Dez 2022
--> www.labiennaledelyon.com

Mehr Texte von Goschka Gawlik

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