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Documenta 15: Der gelungene Paradigmenwechsel

Dass die Documenta 15 überraschend gut bei den Kritiker:innen wegkommt, liegt vielleicht auch daran, dass sie auf die emanzipatorischen Qualitäten ihrer Vorgängerin anknüpfen kann. Denn bereits die von Adam Szymczyk kuratierte Documenta 14 hat den Kanon der dort verhandelten Kunst produktiv geöffnet, vor allem dadurch, dass sie den eurozentrischen Fokus, der zum Beispiel die d13 noch charakterisierte, aufgab und zudem eine explizite Politisierung der Kunst vorangetrieben hat. Auf beides kann das indonesische Kuratorenkollektiv ruangrupa nun aufbauen. Gleichzeitig geht die Documenta 15 entscheidende Schritte weiter, und dieses vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird der Fokus nun endgültig und endlich auf den des Globalen Südens verschoben, zum anderen tritt der Werkcharakter von Kunst jetzt über weite Strecken der Ausstellung in den Hintergrund, kollektive Projektarbeit nämlich gibt bei der Documenta 15 den (kapitalismuskritischen) Ton an.  

Immerhin gut 1500 Teilnehmer:innen machen, im wahrsten Sinn des Wortes, bei dieser Ausstellung mit. Eingeladen wurden sie nicht nur von ruangrupa und dessen künstlerischem Team, sondern auch von den Künstler:innen und Kollektiven, die diese ausgewählt hatten. Dieser, wenn man so will „basisdemokratische“ Prozess ist kennzeichnend für die Documenta 15: artivistische Projekte vernetzen sich lokal, wuchern im selben Moment aber auch weltweit und entfalten so nachhaltig ein rhizomartiges Geflecht, das, so das erklärte Ziel, auch über die Documenta hinaus seine Arbeit weiterentwickeln kann. Diese emanzipatorische Arbeit ist eine, die durch das Prinzip „Lumbung“ geprägt ist, also durch das Konzept des Teilens und dem kollektiven Nutzen von Ressourcen (der Documenta). Dass dieses Konzept, oder besser: dass diese Lebenshaltung gerade heute angesichts von zum Beispiel Klimakatastrophe, Krieg, und weltweit zunehmender sozialer Ungerechtigkeit notwendige Relevanz besitzt, liegt auf der Hand.

Die artivistische Prozesshaftigkeit dieser Kunst führt nicht zuletzt dazu, dass die Documenta 15 eine, zuweilen auch körperliche, Erfahrung ist, so dass sich ihre „Rezeption“ im bloßen Sehen eben bei weitem nicht erschöpft. Charles Esche, der Direktor des renommierten Van Abbemuseum im niederländischen Eindhoven, hat daher klug konstatiert, dass „die Erfahrung dieser Documenta kaum in Bildern repräsentiert werden kann“. Und auch das Herausheben einzelner Projekte – da muss man die Documenta 15 auch vor vielen ihr positiv gesinnten Kritikern in Schutz nehmen –  ­ entspricht nicht der hier gelebten Idee des kollektiven Arbeitens. Darum wird hier auch kein Name einer einzelnen Initiative genannt, stattdessen aber sei eine kurze, ein wenig willkürliche Beschreibung des Spektrums der sich zunächst in Kassel 100 Tage lang ereignenden „Projektkultur“ versucht: Ein mobiles Filmstudio tritt da ebenso in Aktion wie eine Druckwerkstatt, künstlerisches Arbeiten mit Migrant:Innen ist genauso zu erleben wie Vodou- und Trance-Übungen. Queere und afrikanische Mode soll nachhaltig beworben und vertrieben werden. Das Fridericianum birgt eine Schule für „horizontal ausgerichtete Bildung“ inklusive Bibliothek, Schlafsaal, Küche und Kinderkrippe und ein nach Kassel schipperndes Floss promotet nicht nur die Vorstellung von „Lumbung“, sondern lebt diese auch mit ihrer ökologisch unbedenklichen Fortbewegungsart sowie seinem „Finanzierungsmodell“, das auf Tauschen und Teilen beruht, konkret vor.

Auch ein Forschungsprojekt zum Problem von biologischer Diversität zielt in eben diese Richtung. Apropos Ökologie: Selbstverständlich gibt es auch einige Projekte, die in gleichberechtigter Zusammenarbeit mit nicht-menschlichen „Aktanten“ (Bruno Latour) arbeiten und so der „Natur“ ihr immer noch meist verweigertes Recht auf verantwortungsbewusste Mitsprache geben.

Kurz und gut: Der Documenta 15 gelingt ein Paradigmenwechsel, der unter anderen durch seine Absage an individueller künstlerischer Könnerschaft, „heiliger“ Interesselosigkeit und materiell-abgeschlossener Werkhaftigkeit den Begriff Kunst ein Stück weit neu definiert und Kunst konsequent in Lebenspraxis überführt. Sam Bardaouil, der seit kurzem zusammen mit Till Fellrath in Berlin den Hamburger Bahnhof leitet, hat es lobend, aber ein wenig zurückhaltend so formuliert: „Diese Documenta wird die Weise ändern, wie wir Kunst sehen, was wir glauben, was eine Ausstellung darstellt.“ Also: Nichts wie hin!

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Documenta Fifteen
noch bis 25. September 2022
--> documenta-fifteen.de

Mehr Texte von Raimar Stange

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