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Eine Statue im Rückwärtsgang

Der Horizont steht tief. Eine Steppe ist zu sehen und ein bleicher See. In der Ferne ein flacher Hügelzug. Er ist dicht bewaldet, an seiner linken Kuppe jedoch rötlich und kahl. Als Gegengewicht zu den fahlen Streifen in Bodennähe finden sich am oberen Bildrand einige Wolken. Sie bauschen und bewegen sich. Das Licht bleibt dennoch trüb und ohne Schatten. Die Sonne vermag die Wolkendecke kaum zu durchdringen, einzig ein hellblauer Keil verspricht Momenthaftigkeit und jäh einbrechendes Licht. Das Bild ist ein monumentales Porträt. Ein Mann mit langem Mantel ist in ganzer Figur zu sehen. Er trägt ein weißes Hemd, Krawatte und ein dunkelviolettes, samtenes Jacket. Seine linke Hand hält er in die Jackentasche gesteckt. In der rechten Hand finden sich einige Blätter, wohl ein Manuskript. Der Text bleibt summarisch und blassblau wie die Wolken. Der Mann ist ein Philosoph. Das ist nicht nur an der in sich gekehrten, weltabgewandten Haltung zu vernehmen, auch an den drei Absätzen, die sich auf dem Blatt befinden. Der Abgebildete macht sich als Hegel-Exeget und Gelehrter an einer Moskauer Universität einen Namen. Auch Hegel teilt – um der Dialektik willen – seine Blätter in Spalten. Der Mann im Bild zeigt jedoch wenig Vertrauen in den Fortschritt geschichtlichen Bewusstseins, sondern zeigt sich vertieft und mürrisch. Sein Kopf ist gesenkt, die Augen unter der hohen Stirn blicken angestrengt, fast verbittert. Er geht nach links, in jedem Bild Hinweis auf Revision und dräuende Düsternis. Seine Silhouette überhöht diese dunkle Geste, sie zeigt den Denker als Statue im Rückwärtsgang. 1922, kurz nachdem dieses Gemälde angefertigt wird, wird Iwan Alexandrowitsch Iljin, – 1883 in eine aristokratische Familie geboren – als Gegner aus dem jungen bolschewistischen Staates ausgewiesen. Iljin ist einer von insgesamt etwa 160 Intellektuellen, – Philosophen, Ökonomen, Historikern etc. –, die mit dem sogenannten »Philosophenschiff« nach Westeuropa deportiert werden. Trotzki merkt lakonisch an, die kommunistische Führung hätte keinen Grund gefunden, diese Männer zu erschießen, doch ertragen könne sie sie auch nicht.

Während der Emigration lebt Iwan Iljin in Deutschland. Er verfasst antibolschewistische Pamphlete und gibt eine sowjetkritische Zeitschrift heraus. Wie viele der aus Russland Vertriebenen beginnt er sich für die Idee eines erstarkten Eurasien zu begeistern. Für seine Bewährung betrachtet er die gewaltsame Bekämpfung des Bösen als notwendiges Übel, ähnlich dem Kampf des Hl. Georg gegen den Drachen. Während der 1930er radikalisiert sich Iljin und entwickelt Sympathien für Hitler und Mussolini. Autoritäre Disziplin, die Wiedergeburt von Patriotismus und orthodoxe Traditionen werden zu Leitmotiven, die einen Pfad zwischen dem Sowjetkommunismus und den westlichen Demokratien suchen. Hegels Dialektik mündet bei Iljin in einen dritten Weg, die “Besonderheit” und “Mission Russlands”. Zentral ist der Gedanke der Ungleichheit der Menschen als notwendiger Zustand, die Militarisierung des Glaubens und die spirituelle Führung des Landes durch seine Eliten. Nach dem Krieg verfasst Ilyin eine Kunsttheorie. Auch dort werden »Geist« und Widerstreit beschworen. Künstler*innen ringen mit dem eigenen Schaffen, das Ilyin “Dienst” nennt. Immer wieder ist von der Dunkelheit die Rede, aus der das Schöpferische hervorragt, und zu prophetischer und kosmischer Bedeutung schwillt. “Indem er (der Künstler) erschafft, sieht er. Er sieht mit den Augen des Geistes, die sich nur in der Inspiration öffnen. (...) Genau aus diesem Grund ist Kreativität keine freie Tat. Die eigene Eigenwilligkeit in die kreative Handlung einzubringen – den Markt, den ‘herrschenden Geschmack’ oder die Unzüchtigkeit zu bedienen, schließt Dienst aus, der eine Art ‘schöpferisches Gewissen’ ist.” Das Gemälde wirkt wie eine Verbildlichung dieses Denkens. Sehen und Inspiration sind beharrliches Ringen, Werk ist Wehr.

Über Jahrzehnte ist Ilyin in Russland fast vergessen. Erst in den 2000er Jahren werden seine sterblichen Überreste aus Zollikon, seinem Schweizer Exil, nach Moskau überführt. Danach beginnen Szenen zur Verfestigung kollektiver Erinnerung. 2009 legt der damalige Ministerpräsident Putin im Friedhof des Donskoi-Klosters Blumen Blumen am Grab ab, nicht der erste Hinweis auf einen geschichtlichen Revisionismus und den Versuch, eine Neubelebung der Gegenaufklärung zu betreiben. Am Neujahrstag 2014, nur wenige Tage vor der Annexion der Krim, verschenkt Wladimir Putin an Parteifunktionäre und Gouverneure feierlich einen Band mit Schriften des Philosophen. Am 27. Februar dieses Jahres, drei Tage nach dem aggressiven Überfall auf die Ukraine, schreibt Joschka Fischer: “Putin fährt mit voller Kraft im Rückwärtsgang durch die Geschichte, Richtung 19. und erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach vergangener Größe.” Die Ideen dafür borgt er von Ilyin, der im Bild groß erscheint und gedankenschwer. Dass er darin ohne Menschen auskommt, mag ein Zeichen sein, vielleicht auch, dass sein verbitterter Revanchismus ihn vereinsamt zurücklassen wird.

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Abbildung: Michail Wassiljewitsch Nesterow: Der Denker, 1921/22, 126,5 x 124,5 cm, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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