Werbung
,

Trotz und Erlösung

In der Mitte des Portals thront Christus. Ein trotziger Vorbau, der aus statischen Gründen im 15. Jahrhundert nötig wird, verdunkelt das tief eingeschnittene Relief. Christus ist in einer Mandorla wiedergegeben. Die rechte Hand in einem Segensgestus erhoben, hält er in der linken das Buch das Lebens. Die erhobenen Finger greifen über den Rahmen der heiligen Pforte heraus, und schaffen eine erstaunliche Wirklichkeitsnähe. Auch die nackten Füße legen sich über den unteren Wulst. Seitlich knien zwei Engel, deren Kleider in schweren, teigigen Falten fallen. Ihre Flügel, die sich als flache Kämme aufspannen, füllen das mit Akanthus hinterlegte Bogenfeld. Sie halten die Mandorla. Gemeinsam mit den Knospenkapitellen geben deren Scheitel eine Ahnung vom Heraufkommen der Gotik. Christus ist der Souverän und der Auferstandene. Sein Platz über dem Toreingang kennzeichnet ihn als Richter, zugleich als Sieger über den Tod. “Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden.”, heißt es im Johannesevangelium (Joh 9). Unter der himmlischen Sphäre, die noch von kleinen Halbfiguren, die Evangelisten und Apostel darstellen, begleitet wird, ist die Welt kleinteilig und widersprüchlich. Es finden sich zahlreiche Miniaturen von Dämonen, Teufeln und Monstern. Die “bebilderten Steine” (U. Eco) sind in die engen Räume zwischen den Säulen und ihren Kämpfern eingepasst, welche nicht nur Durchgang in das Paradies, sondern auch Erprobungsort und letztes Gericht darstellen. Die Figuren erzählen von Abwehr, vom Kampf des Guten mit der Versuchung, dem Folgsamen und dem Abtrünnigen. Selbst das Flechtwerk an den sieben Säulen soll das Böse binden.

An der linken Seite ist ein Kopf mit spitzer, aber abgebrochener Kopfbedeckung gemeißelt. Es ist ein Jude. Im Wien des 13. Jahrhunderts ist der Hut von der jüdischen Bevölkerung verpflichtend zu tragen. Direkt neben dieser unverhohlen antisemitischen Darstellung schließt ein Löwe an. Seine Mähne ist kunstvoll gekräuselt, seine Pranken balancieren auf dem Profil der Kapitellplatte, unter der ein weiteres Tier unvermittelt hervorlugt. Der Löwe ist ambivalent, ist er Untier oder Bewacher? Nach ihm krallen sich zwei Vögel fest, die dort wie auf einem Ast sitzen – der eine gefiedert, der andere kahl – . Sie deuten neuerlich auf die Trennung zwischen Verdammnis und Seligkeit hin. Auf den nächstgelegenen Kapitellen findet sich ein weiteres Paar. Zwei krumme Wesen stecken die Köpfe zusammen. Dazu überschreiten sie ihre Standplatten als Zeichen wechselseitigen Übergriffs. Aus der Entfernung wirken sie wie gedrungene Gnome, die sich im Wettstreit die Stirn bieten. In der Nähe stellt sich die Begegnung jedoch gleichfalls als Kampf des Guten mit dem Bösen dar. Der linke der beiden Hockenden ist mit einem Kopftuch bekleidet und hält einen Stab in der Hand. Er ist der Mensch. Der rechte zieht ihn an einem Stoffzipfel zu sich herüber. Das Mischwesen mit Widderhorn, Affenfratze und behaarten Bocksbeinen ist der gefürchtete Satan.

Foto: Markus Sulzbacher, Twitter Post, --> @msulzbacher, 18.12.2021, 16:59

Am 18. Dezember 2021 findet eine Kundgebung der Impfgegner:innen in Wien statt. Sie ist für den an den Stadtkern angrenzenden Schwarzenbergplatz zugelassen. Einigen Demonstrant*innen gelingt es, die von den Sicherheitskräften eingerichteten Sperren zu überwinden und in den ersten Wiener Gemeindebezirk, die Innere Stadt, vorzudringen. Die Polizei sieht sich genötigt, den Stephansdom zu sperren. Vor dem beleuchteten Riesentor nehmen einige Polizist:innen Aufstellung. Die Maßnahme wird vorsorglich getroffen, da im Inneren des Domes eine Impfstraße eingerichtet ist. Es kommt zu keinen Zwischenfällen, obwohl sich die Stimmung an diesem Abend aufheizt. Die Demonstrant:innen gehen gegen die angekündigte Impfpflicht vor. Sie vergleichen die Maßnahmen mit den Rassegesetzen der Nationalsozialisten, sehen ihre Freiheitsrechte missachtet und heften sich gelbe Schleifen, die an Judensterne erinnern, an die Ärmel. Nicht nur die Erinnerung an die stigmatisierende Darstellung des Juden an dem Portal wird wach, auch die Tatsache, dass das Tor abermals zum Streitort wird. Zu einer entscheidenden Schwelle zwischen unvereinbaren Vorstellungen von Gut und Böse, allerdings nicht nur symbolisch, sondern politisch und faktisch. Die Kirche, die vielen als Fluchtort vor Verfolgung dient, wird nunmehr vom Staat geschützt, um nicht von den Impfgegner:innen gestürmt zu werden, die vielfach keinen oder privaten Glaubenslehren anhängen.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: