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Schneemannsgarn: Geschichten für die Zukunft

Weshalb beschäftigen sich in der Ausstellung „Schneemannsgarn“ aktuell insgesamt 18 Künstlerinnen und Künstler mit der Figur des Schneemannes? Was interessiert sie an der Kitschfigur, dem Strahlegesicht mit dem breiten Grinsen? Was passiert, wenn sich die Wintersymbolfigur von Low Culture zu High Culture mausert? Wenn sie zu Motiv in Fotografien, Gemälden, Zeichnungen und Videos wird? Gar in Marmor gemeisselt oder als Guss präsentiert wird? Der Titel „Schneemannsgarn“ deutet es – angelehnt an „Seemannsgarn“ – an: Es gibt vielfältige Erzählungen rund um die Figur aus der Kindheit.
Sowohl der Schneemann als auch die Schneefrau erhalten in der zeitgenössischen Kunst diverse Rollen. Heinz Häsler vom Kunsthaus Interlaken und Gastkuratorin Andrea Domesle aus Basel haben eine Ausstellung zusammengestellt, in der die Schneefiguren freudig genossen, kritisch beäugt und jämmerlich zerflossen zu bestaunen sind.

Beim Gang durch die Ausstellung tritt eine fesselnde Dualität zu Tage. Zuerst kaum greifbar und sehr dezent wischt – nicht nur symbolisch gesprochen – ein Schreckensgesicht das Grinsen aus dem Gesicht der Schneefiguren. Die Wintersymbolfigur, früher als Personifikation des notbringenden Winters gefürchtet, gewann erst im 19. Jhdt. nach einem Imagewechsel dank einer deutlichen Verbesserung der Lebenslage der breiten Bevölkerung, dem aufkommenden Interesse an Wintersport, dem Tourismus und der zunehmenden Popularität von Postkarten, die den selig grinsenden Schneemann als Motiv übernahmen, an Popularität. So liegt zu Beginn der Ausstellung ein Exemplar von Kreidolfs „Ein Wintermärchen“ aus. Die Kuratoren präsentieren hier unser überliefertes Verständnis aus der Kindheit und zugleich schaffen sie Platz für die sich kontinuierlich neu definierende Dualität: Kreidolfs Buch erschien mit den Schrecken des 2. Weltkrieges im Rücken. In der Inszenierung der endlosen Wanderung um Judith Alberts „schwarzes Loch“, bei dem die Spuren im Schnee an das ikonische Foto von Robert Walsers Tod erinnern, die ebenso wie das Leben Walsers im Schnee versiegen, schwingt die Furcht vor dem Winter noch deutlich mit.

Demgegenüber stehen Arbeiten wie Silvia Bächlis und Eric Hattans „Snowhau“ und „Eine Cousine von Snowhau“, die den Schneegestalten Leben einhauchen oder auch Ingeborg Lüschers „Zauberfotos Christo“, in denen der berühmte Künstler den Schnee bejubelnd im Schneegestöber zu sehen ist.

Weitere Arbeiten wie das Foto-Diptychon „Jungfraujoch“ von Walter Niedermayr zeigen die Absurdität und die Illusion von touristisch erschlossenen Räumen auf. Melanie Wiora hingegen zeigt mit ihrem „Bergblick“ gar auf, dass auch die Schönheit des Winters und der Berge im Auge des Betrachters liegen. Es findet also eine Werteverschiebung statt, die winterliche Alltagsfigur wird zum Ausstellungsobjekt, zum Träger neuer Werte und Normen. Gar zum Träger neuer Bedrohungen: Die Jahreszeiten unserer Breitengrade erliegen langsam aber sicher der Bedrohung Mensch. Ursula Pallas „Great White“ führt uns vor Augen, wie die kleinen Schneemänner unter plätschernden und kullernden Geräuschen langsam aber sicher der Wärme zum Opfer fallen – was auch unser Schicksal durch die Bedrohung der Klimaerwärmung sein kann. So ruft die Ausstellung nicht nur kindliche Reminiszenz an den Winter in Erinnerung, sondern zwingt die Betrachtenden über ihre eigene Vergangenheit dazu, sich mit unser aller Zukunft auseinander zu setzen.

Mehr Texte von Michelle Sacher

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Schneemannsgarn
12.06 - 22.08.2021

Kunsthaus Interlaken
3800 Interlaken, Jungfraustrasse 55
Tel: +41 33 822 16 61
Email: info@kunsthausinterlaken.ch
http://www.kunsthausinterlaken.ch/
Öffnungszeiten: Mi-Sa 14-17, So 11-17 h
Mo, Di geschlossen


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