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Arin Rungjang - Ravisara: „The happiness and I have never met.“

Die Stadt, das Geschehen auf der stets wuseligen Kreuzberger Oranienstraße, greift in Arin Rungjangs Arbeit „Ravisara“ (2019) ein. Auf der Fensterscheibe der daadgalerie spiegeln sich vorbeilaufende Passanten, parkende Autos und die gegenüberliegenden Häuser. Ihre Reflexionen überlagern sich mit den aneinandergereihten Bildschirmen der Mehrkanalinstallation die, einen großen Halbkreis bildend, im Innenraum der Galerie installiert wurden. Auf ihnen sind Ausschnitte eines Raumes zu sehen: eine Backsteinwand, Holzboden, ein Heizkörper, eine Ballettstange. Sechs Frauen unterschiedlichen Alters erscheinen, mal einzeln, mal zu zweit, später in einer Gruppe. Sie bewegen sich langsam durch den Raum, legen sich auf den Boden, rollen sich zusammen wie ein kleines Kind, betasten vorsichtig ihr eigenes Gesicht. Manchmal macht es den Anschein, als seien sie Tänzerinnen, die ihren Körper für die kommende Anstrengung vorbereiten, ihn massieren, dehnen. Hin und wieder tauschen sie gegenseitig zaghafte Berührungen aus, die an tröstende Gesten erinnern. Musik dringt aus dem Ausstellungsraum - oder kam sie doch aus einem der vorbeifahrenden Autos?

Die Arbeit „Ravisara“ erzählt die Geschichten der Frauen, die alle aus unterschiedlichen Regionen Thailands nach Deutschland kamen.

Entstanden ist die Installation des Künstlers Arin Rungjang (*1975, lebt in Bangkok, Thailand) als Ergebnis seiner Recherche in der thailändischen Gemeinschaft der Stadt, mit der er sich während seines Aufenthalts als Stipendiat des Künstlerprogramm des DAAD in Berlin 2018 beschäftigte. Rungjang setzt sich in seiner künstlerischen Praxis mit Geschichte, Geschichtsschreibung und Erinnerung auseinander. Anhand von Archivmaterial, Alltagsobjekten und mündlichen Überlieferungen bringt er historische Ereignisse und persönliche Erfahrungen zueinander ins Verhältnis und schafft so Möglichkeiten althergebrachte Narrative neu zu interpretieren.

In „Ravisara“ fallen die Erzählungen und die Aufnahmen der Frauen auseinander. Ihre Stimmen sind nicht zu hören, die Berichte erscheinen in Textform, übersetzt ins Englische, auf einem weiteren Bildschirm, der sich direkt am Fenster befindet. Die unterschiedlichen Schilderungen sind den einzelnen Frauen nicht zuzuordnen, auch wenn die Betrachterin ihre Bewegungen nach entsprechenden Gesten untersucht. Doch die Lücke, der Raum zwischen dem Text, der auf dem vorderen Bildschirm erscheint und den Protagonistinnen bleibt bestehen, lässt sich nicht auflösen. Die Geschichten sind so auf der einen Seite sehr persönlich und individuell, auf der anderen Seite macht es den Anschein, als gehöre jede einzelne Erzählung nicht nur einer der Frauen, sondern allen. Es sind umformulierte Wiederholungen ähnlicher Umstände, die von Gewalterfahrungen, Machtverhältnissen, Geschlechterrollen, Verlust und Hoffnungen erzählen. Immer wiederkehrend: Das Motiv der Mutter, die für das Wohl ihrer Kinder in das ferne Deutschland aufbricht, um dort Geld zu verdienen, gegeißelt durch die Tatsache das Kind zurücklassen zu müssen. „The happiness and I have never met“, erfahren wir in M.‘s Bericht. Aber auch Momente der Selbstermächtigung und Autonomie blitzen auf – es sind immer auch die Erinnerungen von Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen, um die Bedingungen zu verbessern: „In the past, we would obey our parents, but these days I believe it’s up to a woman to choose our path. We can decide, similar to what Buddha taught: we come to this world alone. If we think this way is better, we just go.” (D.)

Ursprünglich war geplant, die Ausstellung „Ravisara“ bereits im November vergangenen Jahres zu eröffnen, was jedoch durch die Corona-Bestimmungen nicht möglich war. Der Künstler entwickelte daraufhin die Arbeit neu, sodass sie nun seit dem 22. Februar durch das Schaufenster der daadgalerie zu sehen ist.

Durch diese Präsentationsform entsteht eine doppelte Distanz zu den Frauen: Nicht nur die Tatsache, dass sich die Erzählungen nicht eindeutig zuordnen lassen, sorgt hierfür. Auch die räumlichen Umstände, der Blick durch das Fenster der Galerie und der Abstand zu den Bildschirmen auf denen die Protagonistinnen erscheinen, führt eine Distanz herbei. Hinzu kommt das Geschehen auf der Straße, die Spiegelbilder, die sich zuweilen störend, ablenkend auf die Rezeption auswirken, das Vermischen der Geräusche aus dem Inneren des Ausstellungsraumes und jenen des Verkehrs. Jeder und jede, die an den Geschichten vorüberläuft, ohne stehen zu bleiben, ohne zu lesen, ohne zu schauen, wird so Teil der Arbeit, sowohl formal als auch inhaltlich. Vielleicht verstärkt die neue Präsentationsform einen wichtigen Aspekt der Arbeit: Die Erinnerungen jeder dieser Frauen bilden einen eigenen Raum, der niemandem gehört als ihnen selbst. Dieser Raum ist für andere nicht zu betreten, Pandemie hin oder her. Doch gleichzeitig sind diese Erinnerungen nicht von der Stadt zu trennen, sie sind Teil des Lebens in Berlin. Viele solcher Geschichten werden täglich durch die Straßen getragen ohne gehört zu werden. Im Fall von „Ravisara“ muss man nur stehenbleiben und hinschauen.

Mehr Texte von Ferial Nadja Karrasch

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Arin Rungjang - Ravisara
22.02 - 05.04.2021

daadgalerie
10969 Berlin, Oranienstraße 161
Tel: +49-30-20220827
http://www.daadgalerie.de
Öffnungszeiten: 12-19 h


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