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Am Abgrund

Auch die zweite, von Ekaterina Degot verantwortete Ausgabe des steirischen herbstes besticht durch seine kluge künstlerische Dekonstruktion der aktuellen politischen Lage. Unter dem Motto „Grand Hotel Abyss“, das auf die Formulierung „Grand Hotel Abgrund“ des marxistischen Philosophen George Lukács von 1933 anspielt, sind dieses Jahr Arbeiten und Performances zu sehen, die auf der einen Seite den systemkonformen Hedonismus unserer Tage reflektieren, auf der anderen Seite den gesellschaftspolitischen Abgrund, vor dem sich dieser Hedonismus abspielt.

Die hedonistische Gier unserer Zeit thematisiert z. B. die Videoinstallation „Progessive Touch: Series 1“, 2019, von Michael Portnoy in der Helmut List Halle. Lesbische, schwule und hetereosexuelle Hochglanzpornos sind da auf vier über kreuz stehenden Leinwänden zu sehen, die im Rhythmus von Prog-Rock und Jazz ästhetische Sexarbeiten vorstellen, die sich als eine Anleitung für „besseren“ Sex verstehen. Gleichzeitig sind diese Sexarbeiten so steril und absurd „intensiv“, dass einem im wahrsten Sinne die Lust vergeht. Intimität im Zeichen kommodifizierter Beziehungen also steht hier zur Disposition. Dass im Rahmenprogramm des „herbstes“ die dieses Thema seit längerem bedenkende Soziologin Eva Illouz einen, wenn auch in seiner Oberflächigkeit enttäuschenden, Vortrag gehalten hat, macht also überaus Sinn.

Andreas Siekmann rückt mit seiner Skulptur „Nach Dürer“, 2019, am Grazer Griesplatz explizit politische Momente in den Vordergrund. Albrecht Dürers nicht realisiertes „Denkmal für die besiegten Bauern“, 1525, stellt der Berliner Künstler nach und mahnt so an den Sieg, den Großkonzerne heute, z. B. mit ihren ruinösen Mega-Monokulturen, über die kleinen Bauernhöfe feiern. Die Tierfiguren, die bei Dürer den Sockel schmücken sollten, hat Siekmann gleichsam modernisierend ausgetauscht: Jetzt sind es angehäufte Suppendosen, Gewehre, Gesichtsmasken und eine Kabeltrommel, die anspielen auf die verheerende Macht der neoliberal-globalisierten Ökonomie.

Jasmina Cibic nimmt in ihrem im Grazer Künstlerhaus gezeigte Film „Das Geschenk – 1. Akt“ (2019) die problematische Beziehung von Staat und autonomer Kultur, genauer: die Instrumentalisierung von Kunst durch politisch motivierte Geschenke an den Staat in ihren Fokus. Eine vierköpfige Jury soll hier darüber entscheiden, welches zum Geschenk angebotene Kunstwerk vom Staat angenommen werden soll. Dabei werden die Probleme deutlich angesprochen, die solche Geschenke stets mit sich bringen, von klammheimlicher Propaganda etwa oder von offensichtlichen Wirtschaftsinteressen der „Spender“ ist da z. B. die Rede. (Dass Cibic eine von nur zwei weiblichen Künstlern in dieser aus 13 künstlerischen Positionen bestehenden Künstlerliste der Installationen ist, das ist das Ärgernis dieses „herbstes“.)

Den wohl überzeugendsten Beitrag hat Artur Żmijewski mit seiner Installation „Plan B“, 2019, beigesteuert. In einer kleinen Nebenstraße im Zentrum von Graz hat Żmijewski, ganz im Stil von Guillaume Bijl, eine Änderungsschneiderei in einem leerstehenden Ladenlokal installiert. Betritt man die täuschend echt anmutende Schneiderei, wird man von zwei freundlichen Angestellten aufgefordert eine verborgene Tür zu suchen. Hat man diese endlich gefunden, dann darf man in einen Kellerraum treten, in dem eine Zufluchtsstelle eingerichtet worden ist, die Schutz bieten soll vor sozialen Unruhen. Hochbetten sind da zu finden, eine Kochnische, eine Toilette, Kinderecke und Überwachungsmonitor … Der im Titel des „herbstes“ angedrohte „Abgrund“ wird hier ganz selbstverständlich zu einem Teil des Alltag – und dieses ist angesichts der rasant desaströser werdenden Klimakatastrophe leider weit mehr als nur eine künstlerische Fiktion.

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Programm unter: -->steirischerherbst’19
19.9.–13.10.19

Mehr Texte von Raimar Stange

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