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Time Is Thirsty: Die volle Dröhnung im Loop

Bereits vor Eintritt in die Ausstellung Time is Thirsty weist zu entnehmender Gehörschutz auf die erwartbare Lautstärke in den Räumlichkeiten hin. Kurator Luca Lo Pinto hat im Obergeschoss der Kunsthalle Wien Arbeiten von einer Vielzahl an Künstler*innen rund um das Datum 1992 zu einer Installation vermengt, die auf den ersten Blick vielmehr einem leeren Club ähnelt als einer „Reise durch Zeit und Raum“. Die Neunziger Jahre bedeuten „Raves, Sportswear als High Fashion, politischer Aktivismus im Zuge der globalen AIDS Krise, die Neuordnung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, Wiedervereinigung Deutschlands, erste Mobiltelefone und Beginn der Verbreitung des Internets“. Man möchte meinen, eine solche Thematik mache eine „in-your-face“-Präsentation zwingend, aber offenbar nicht. Stattdessen ist es nicht leicht, sich als Besucher*in in der Ausstellung zu orientieren. Inmitten weithin leerer Glasbehälter in unterschiedlichen Größen, die von Jason Dodge am Boden platziert wurden, toten Insekten, Kraftkleber, Batterien, Lutscher und Gummiringerl, einem kaputten Drehstuhl und einer überdimensionierten Levi’s Jeans (Lutz Bacher, 1992), gefüllt mit weißen Styroporbällchen und ganz viel Raum, geht man schon leicht verloren. Man fühlt sich an jenen Moment erinnert, in dem man realisiert, dass die Party vorbei ist, die Musik aber trotzdem noch läuft und noch nicht alle Gäste nach Hause gegangen sind.

Rückstände von weißem Pulver oder farbigen Flüssigkeiten in den Gläsern am Boden, Glitzer (2015) von Ann Veronica Janssens, der über den Boden verstreut an den Schuhsohlen haften bleibt, umgeben von einer Dramaturgie aus Licht und Sound. Friedliche Melodien werden von übersteuerten Bässen verdrängt, leise und laute Geräusche von heller und dunkler werdenden Lichtpaneelen an der Decke begleitet. Sechs Lautsprecher am Boden, noch mehr an der Decke, befördern die Musik ins Körperinnere – selbst der Raum ähnelt einem solchen. Die Wände wurden mit Wunden versehen („fresh bruise“, „open wound“ und „deep cut“ von Georgia Sagri, 2018) und erinnern fast an einen Tatort. Diese Assoziation wird von einem Gemälde untermauert, das eine nackte weibliche Figur zeigt (Adam Gordon, „Untitled“, 2019), deren erdige Tonart einen Kontrast zu den schwarzglänzenden Ankleidepuppen bildet, die in sportliche Outfits gehüllt mitten im Raum stehen (Willem de Rooij, 2015). Vor nacktem Beton richtet Gordons Figur ihren Blick auf die Szenerie.

An „Erleuchtung“ könnte man denken, wenn die Installation wieder ihre volle Helligkeit erreicht hat und der Soundtrack von Peter Rehberg (Gründer des unabhängigen Labels Mego) und dem Elektro-Duo Vipra etwas Meditatives aufzuweisen beginnt, man als Besucher*in beinahe in einen tranceähnlichen Zustand verfällt und man bei einem kleinen Tafelbild, „Utezi (Weights)“ (1992) von Mladen Stilinović, in schmutzigem Weiß angelangt ist, auf dem am oberen Rand zwei Gewichte platziert wurden und das beim Betrachten im Kontext dieses Settings etwas irritierend wirkt. Es bedarf der Kenntnis, dass sich der Künstler Anfang der 1990er im „kriegsgeschundenen Kroatien“ die Frage nach der Farbe des Schmerzes stellte, dass die Arbeit aus der Werkserie eine Reaktion auf die quälende Situation war, in der er seine subversive Gesellschaftskritik auf poetische Weise äußerte.

Die in die Ausstellung integrierten Gerüche von Sissel Tolaas, die eine Nachbildung des spezifischen Aromas von Wien komponierte, sind derart subtil, dass sie kaum wahrgenommen werden. Ebenso die Arbeit „Old Work“ (2019) von Nick Bastis, der mittels seiner ortsspezifischen Installation in der linken hinteren Ecke der Ausstellungshalle „die Architektur wertschätzen“ möchte. Auch die Fotoarbeiten „Angry Porn“ (2016) von Cara Benedetto und jene von Heji Shin, die als Teil einer Untersuchung zur Porträtfotografie aus quasi-feministischer Perspektive insbesondere das Diktat weiblicher Selbstinszenierung auf Social-Media-Plattformen in Frage stellen, fallen irgendwie aus dem Rahmen.

Schmutzige Abdrücke an den Wänden und auf dem Boden (Anna-Sophie Bergers Kittel aus Polyesterspitze, Titel: „Time that breath cannot corrupt“, 2019) sind Dokumente, Spuren von Kleidungsstücken, zuvor in braunem Schlamm gewälzt, deren Spitzenstofflichkeit an mehreren Stellen im Ausstellungsraum „Beuys zu Ehren“ (mit Verweis auf die Schwarzweißfotografie von i ready made appartengono a tutti ® aus dem Jahr 1988) abzulesen sind.

Time is Thirsty gleicht einer „underground church“, ist selbst Code, den es zu dechiffrieren gilt.
Die kryptische Präsentation ist nicht nur „shiny metal“ – der Schein scheint zu trügen. Die eingezogene Textebene berichtet von Ereignisse aus dem Jahr 1992 („Sept. 19 1992“, On Kawara), dem Gründungsjahr der Kunsthalle Wien. Die affichierten Zeitungsartikel erinnern daran: „Violence can only take us to the Abyss“ und das (politisches) Statement lautet: „Violence is not the anwer“.
In diesem Sinne: „MERRY CHRISTMAS“ (Das Kurznachrichtensystem SMS wurde zum ersten Mal am 3. Dezember 1992 benutzt, als der junge Testingenieur Neil Papworth von seinem PC aus den Text „Merry Christmas“ über das Vodafone-Netzwerk an das Telefon von Richard Jarvis schickte.)

Mehr Texte von Bettina Landl

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Time Is Thirsty
30.10.2019 - 06.01.2020

Kunsthalle Wien Museumsquartier
1070 Wien, Museumsplatz 1
Tel: +43 1 521 89-0
Email: office@kunsthallewien.at
http://www.kunsthallewien.at
Öffnungszeiten: Di-So 10-19, Do 11-21 h


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