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Gedanken zur documenta

Spätestens seit Catherine Davids 1997er Version hat die documenta eine archäologische Abteilung. Sie schürft an die Oberfläche, was die Kuratorenpersonen für vernachlässigt erachten, Frauen, Menschen aus Afrika oder aus dem ehedem Osten, je nachdem woher, um mit Helmut Kohl zu reden, der Wind des Zeitgeists weht. Seit einigen Jahren gilt Kimberlé Crenshaws Wort von der Intersektionaliät, und da hat die diesjährige documenta ein besonderes Kleinod zu Tage befördert. Lorenza Büttner wurde 1959 in Punta Arenas geboren, auf Feuerland also, ganz hinten unten in der Welt. Mit acht Lebensjahren gab es einen Unfall, so dass Lorenza Büttner beide Arme verlor. Nach Deutschland gezogen, entdeckte Ernst Lorenz Büttner, so der Geburtsname, seine Transgender-Veranlagung und wurde zu Lorenza, studierte Kunst und machte Bilder mit den Füßen oder dem Mund. Lorenza Büttner starb 1994 an den Folgen von AIDS. Polymorpher in Mitleidenschaft gezogen geht es kaum. Da muss die documenta zugreifen, und die kleine Retrospektive, die es nun von diesem Oeuvre gibt, findet an prominentester Stelle statt, in der Neuen Galerie, dem diesjährigen Zentralort, am Ende der Saalflucht, ausgebreitet über zwei Stockwerke. Dass Büttners Arbeiten jenseits des Körpers, der sie entstehen ließ, auch ganz konventionellen Kriterien von Kunst entsprechen, wäre dann eine Kollateralerscheinung.

Die Neue Galerie ist der Zentralort, weil das angestammte Haus dafür, das Fridericianum, dem Faible des diesjährigen Leiters Adam Szymczyk für Griechenland zum Opfer gefallen ist. Da darf das in Athen beheimatete aber niemals eröffnete nationale Museum für moderne Kunst seine Bestände ganz selbstverwaltet darbieten. Kraut und Rüben kommen zusammen, Geländegängiges für die Gegenwart wie Kendall Geers oder Hans Haacke wird mit füglich Provinziellem aus heimatlicher Provenienz über den Leisten geschustert, als hätte es nie auch nur einen Grundkurs in Kuratorentätigkeit gegeben. So gut gemeint die Chose ist: Wolfgang Schäubles Politik, dass man die Griechen nicht sich selbst überlassen darf, hier kommt sie zur Anschauung.

Im aktuellen „Merkur“ gibt es einen interessanten Text über die französische Soziologin Chantal Jacques und ihr Konzept der „Transclasses“. Der modischen Vorsilbe zuwider meint der Begriff ganz raumgreifend eine gewisse Gespaltenheit heutiger Intellektualität. Den 60er/70er Emanzipationen entsprechend kommen ihre Vertreter gern aus jenen Schichten, denen Bildung bis dahin eher vorenthalten gewesen war. In ihren neuen Milieus, jenen der Kultur und der gehobenen Sitten, sind sie indes nicht heimisch geworden, und so flottieren sie dahin in den Interferenzzonen. Heutige Kuratorenschaft scheint ein Paradebeispiel für diese Existenz in den Transklassen zu sein. Die documenta führt, speziell im Show Room Neue Galerie, ganz beflissen Klassizismus vor, versucht sich in einer Theorie der Avantgarde und recherchiert dem Thema Beutekunst hinterher. Gleichzeitig versucht sie Kunst als Medium der Emanzipation zu exerzieren und buchstäblich neue Kontinente zu erschließen, das Innere Australiens oder die Äußere Mongolei als Rekrutierungsfelder für andere Bilder. Bezeichnenderweise überzieht dieser Spagat auch die Orte, in denen er sich entfaltet. Bildungsbeflissenheit findet im Museum statt, Newcomerattitüde an Arealen, die seit Langem brachliegen: So gibt es dafür speziell eine „Neue Neue Galerie“ auf dem Gelände der zum Großteil nicht mehr genutzten Hauptpost.

Eben diese Hauptpost hat auch einige Trakte, die weiterhin in dauerhafter Verwendung sind. Beispielsweise durch die Stadt, Abteilung Hilfe für Jugendliche. So ist mein spezielles Foto zur diesjährigen documenta zustande gekommen - ganz beiläufig im Treppenhaus, während man von einem Stockwerk mit documenta-Teilen zum anderen ging. Ein Schild ist zu sehen:„hiergibtesleiderkeinekunst“ steht in deutlich artifizieller Ambition darauf und, ein Stück weniger artifiziell: „aber jugendhilfe“. Ganz klein ist unter dem Wort „jugendhilfe“ noch zu lesen „was im besten fall auch eine kunst ist“. Womöglich ist das richtig. Was aber auch richtig ist: Diese documenta ist keine Hilfe.

www.documenta14.de

Mehr Texte von Rainer Metzger

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