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Die Stadt ein Kunstlabor

Nun ist Athen also in Kassel gelandet. Mit mehr als 30 Ausstellungsorten hat die heuer als Zweistädte-Projekt angelegte documenta 14 diesen Samstag ihre zentrale 100-Tage Präsentation eröffnet. Sie führt ihr Publikum über das bis dato am weitesten ausgedehnte Wegenetz der hessischen Kultur- und Universitätsstadt. Es erstreckt sich bis in die Zonen tatsächlicher städtischer und sozialer Peripherien der sogenannten Nordstadt und umfasst brachliegende öffentliche Gebäude, Institutionen, Kinos und Plätze im Außenraum. Dabei wirken die einzelnen Erkundungsstrecken sehr durchwachsen und führen in vollkommen unterschiedliche Situationen.

Überraschend zum Beispiel, wie ruhig, stellenweise meditativ und gar nicht so sehr vordergründig politisch die Präsentationen in der traditionellen documenta-Halle wirken. Neben farbigen Textilien und grünen Indigo-Pflanzen gehören hier auch die Farbraster des Malers Stanley Whitney und nebelige Gemälde von Miriam Cahn zu den zurückbleibenden Eindrücken, nachdem man einen Bereich passiert hat, der dem berühmten malischen Musiker Ali Farka Touré gewidmet ist. An mehreren Stellen begegnet man der Performance-Künstlerin Anna Halprin, bis man schließlich in einen Spielort stolpert, wo täglich Neue und elektronische Musik aufgeführt wird. Die meisten Stücke sind MigrantInnen, Flüchtlingen und Dislozierten gewidmet.

Bis hierher gewandert, hat man längst Kassels neues Megazeichen im Innenbereich seiner Kulturmeile passiert. Hier im Außenraum bescherte die documenta 14 den Medien eine neue Ikone. Auch von der lokalen Bevölkerung wird das weithin sichtbare Wahrzeichen geliebt. Obwohl diese documenta die Welt doch von ihren Rändern her erschließen möchte, ragt das Ding bloß ein paar Schritte von Einkaufsparadiesen und Fressbuden entfernt direkt auf dem Friedrichsplatz empor: Es ist eine Intervention der argentinischen Konzeptkünstlerin Marta Minujín. Kaum zu glauben, wie lässig deren Architektur den Bau des klassizistischen Friedericianums überragt.

Gekleckert wird hier nicht. Die Dimensionen des »Parthenon der Bücher« entsprechen denen der Akropolis in Athen. Das Ding ist leicht erfassbar und dennoch vielschichtig, wurde es von Minujín doch bereits einmal realisiert: 1983 nach der Rückkehr Argentiniens in die Demokratie. Dem damaligen Anlass und der heutigen Verfasstheit zahlreicher Staatssysteme entsprechend ergibt sich die Struktur des Gebäudes aus Büchern, die allesamt zumindest einmal unter einem Regime verboten waren oder es aktuell sind. In Folie eingeschweißt und an die Tempel-Konstruktion montiert ist bisher allerdings nur ein kleiner Teil der Bücher. Da dürfte noch ein Sommer lang Schwerarbeit bevorstehen.

Dieses Unfertige, Prozesshafte entspricht genau dem proklamierten Ausstellungskonzept des künstlerischen Leiters dieser documenta 14 Adam Szymczyk (*1970). Immer wieder betont er, dem Publikum sollten Erfahrungsräume eröffnet werden. Das sei mehr, als mit der Eintrittskarte bloß Zutritt zu fertigen Werken zu erhalten. Deshalb empfiehlt er die Annäherung an diese documenta auch von außen her: etwa von der sogenannten Neuen Neuen Galerie aus, einem ehemaligen Postgebäude. Tatsächlich trifft man dort auf eines der Highlights, auf ein riesiges Videogemälde in mehrfachem Cinemascope-Breitwandformat des äthiopisch-italienischen Künstlers Theo Eshetu, in dem Masken und Gesichter als Kollision von Gegensätzen zwischen Ritual und individuellem Handeln überblendet werden.

Es ist die Konfrontation mit einer Kunst, mit einer Ausdrucksform und mit Fragen, welche diese documenta aufzuwerfen verspricht, die aber nur allzu selten zu finden sind. Ja, in diesem Stückwerk immer wieder interessanter Einzelwerke scheinen allzu oft Linien, bewusst gesetzte Kontraste oder Querbezüge zu fehlen. Bisweilen drängt sich die Frage auf, wo es nun wirklich zu Perspektivwechsel im Sinne kritischer Distanzname von eingefahrenen eurozentristischen Sichtweisen kommt. Wie sieht es mit der künstlerischen Produktion in Westafrika, in Indien im Underground Chinas aus? Warum schlägt diese documenta solche Routen bloß hie und da und bloß ansatzweise ein?
Im Gegensatz zu solchen Leerstellen wirkt ein Kapitel, das Anfangs eher belächelt und mehr als kulturpolitische Geste gedeutet wurde, geradezu spannend: nämlich die Präsentation der Sammlung des »EMST«, des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst in Athen, das wegen der Finanzkrise Griechenlands lange geschlossen bleiben musste. Immerhin ein unterbelichtetes Kapitel der Gegenwartskunst, mit einer Vielzahl interessanter Werken, die auch gesellschaftspolitische Hintergründe mitreflektieren.

An Verantwortungslosigkeit jedoch grenzt es, wenn eine Vielzahl der Labels an den Wänden keine näheren Erklärungen zu Hintergrund und Arbeitsweise der KünstlerInnen enthalten. Gerade in Bezug auf Griechenland, das bis 1974 unter der Militärdiktatur der Obristen stand, während im Westen die Studentenrevolte brodelte, wäre es maßgeblich, zu wissen, unter welchen Bedingungen KünstlerInnen arbeiten mussten bzw. sich auch anpassten. Hier fassten die KuratorInnen, sowohl die Griechischen wie auch documenta 14 Leiter Adam Szymczyk ihre Auffassung vom Prozesshaften viel zu weit.

So wie hier mit wesentlichen Informationen hinter dem Berg gehalten wird, wirkt auch die gesamte documenta in vielen Bereichen etwas zu wenig durchgearbeitet, bruchstückhaft und fragmentarisch. Aus der Rhetorik des unentwegt wiederholten Appells »von der Krise zu lernen« ergibt sich nicht unbedingt eine dichte, fesselnde Ausstellung. Hingegen steht es den BuscherInnen diesmal offen, sich aus der breite des nahezu überfordernden Angebots, jeweils ihre eigene documenta zusammen zustellen.

Doch immerhin gelang Adam Szymczyk ein bemerkenswerter Eingriff in die Realpolitik. Denn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnete die diesjährige documenta in Anwesenheit seines griechischen Amtskollegen Prokopis Pavlopoulos mit den Worten: »Überprüft eigene Vorurteile, nehmt die Perspektive des anderen ein - nur so lassen sich Gemeinsamkeiten finden«. Ein überdenkenswerter Apell, sollte er sich auf die Einstellung der Wirtschaftsmacht Deutschland gegenüber seinem südlichen EU-Partner beziehen.

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Documenta 14
10. Juni–17. September 2017
Täglich 10–20 Uhr
www.documenta14.de

Mehr Texte von Roland Schöny

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