Werbung
,

Richard Gerstl - Retrospektive: Gerstl in der Schirn

Kommt man in die weitläufig gefügten Räume, die die Frankfurter Schirn gerade Richard Gerstl widmet – das schmale Oeuvre lässt eine luftige Hängung locker zu –, dann sieht man gleich die Klammer um dieses Werk. Am Anfang, entstanden in den Jahren zwischen 1902 und 1904, steht ein Halbakt: Gerstl, um die zwanzig, steht fest, selbstbewussten Blicks aber mit ein wenig ratlos hängenden Armen vor sich, blickt in den Spiegel, und augenscheinlich möchte er Wirkung hervorrufen. Auf seine Art wird ihm dies gelingen. Am Ende, exakt datierbar auf den 12.September 1908, steht ein Ganzakt: Hager, ausgemergelt am Körper und traumatisiert an der Seele, stellt sich Gerstl zur Schau; die Umgebung ist sein Zimmer, er ist allein mit sich und seiner Vehemenz, und was ihn derart in die Enge getrieben hat, dass seine fragile Gestalt nicht auf dem Bildformat unterzubringen ist, zeigt sich buchstäblich im Mittelpunkt; was in dunkler Farbe vor Augen tritt, ist der Unterleib, sein Geschlechtsorgan. Gerstl hatte es in den vergangenen Monaten derart forciert in Gebrauch, dass es ihn in die gesellschaftliche Isolation geführt hat. Richard Gerstl, Selbstbildnis als Halbakt, 1902/04, Öl auf Leinwand, 159 x 109 cm, © Leopold Museum, Wien Dabei war es nur eine Affäre mit einer verheirateten Frau. Deren Gatte immerhin ist eine ihrerseits notorische Figur des Wien um 1900, Arnold Schönberg, der Komponist, der sich von Gerstl in die Kunst des Malens einführen lassen wollte. Es kam zu Freundschaft, Aufnahme in den exklusiven Zirkel um den Meister, zu gemeinsamen Sommeraufenthalten und vielerlei Porträts von Kombattanten und Gleichgesinnten. Und es kam zur Liebschaft mit Mathilde Schönberg, es kam zur gemeinsamen Flucht, schlechtem Gewissen und reuiger Rückkehr zu Mann und Kindern. Gerstl, unbeugsam, unbequem, unmanierlich über die Maßen, blieb allein zurück. Am 4. November begeht er Selbstmord, mit Strang und Messer zugleich legt er Hand an sich. Richard Gerstl, Selbstbildnis als Akt, 12. September, 1908, Öl auf Leinwand, 139,3 x 100 cm, © Leopold Museum, Wien Da liegt es nahe, und so tut es die Schau, Gerstl als Wiens frühesten Expressionisten zu nehmen. Tatsächlich sind Gerstls Gemälde, wenige Dutzend an der Zahl, von denen fast alle zu sehen sind, Dokumente seines Ungestüms. Doch haben sie nichts Demonstratives, nichts Hochgetürmt-Anklägerisches, und sie singen, anders als Kokoschka, der Konkurrent um diesen Titel, keine Hymnen auf die Fleischlichkeit. Gerstls Gemälde sind eher verbunden mit jener Dimension des Daseins, die gerade erst, namentlich von dem Wiener Physiologen Ernst Mach, herausgearbeitet wird und später dann als „Lebenswelt“ philosophische Karriere macht. Gerstls Motive verdanken sich stets und von jeher seiner unmittelbaren Umgebung, ranken sich entweder um Porträts vertrauter Menschen oder um die Gärten und Landschaften, in denen er sich gerade aufhält. Sein Pinselduktus folgt eher strenger, konzentrierter Arbeitsweise, wenn es darum geht, etwa dem Vater eine gewisse Monumentalität zukommen oder, wie bei den ersten Bildnissen von Schönberg und seiner Familie, Vertrauen aufkommen zu lassen. Der Duktus wird rasant und sehr kursorisch bei den aus der Laune des Augenblicks heraus entstandenen Ferienporträts. Oder er wird bisweilen hektisch wenn nicht hysterisch, etwa beim letzten Bild, das Mathilde Schönberg zeigt, einem Akt, der nur aus den wenigen Farbmarkierungen zu bestehen scheint, die sich ergaben, bevor die traute Zweisamkeit zerstört war. Keiner aus der jungen Generation der Wiener Maler war in seiner Methodik so international orientiert, keiner war in seiner Motivik derart privat wie Gerstl. Deswegen steht seine Malerei als die avancierteste von allen im Raum. Gerstl verkörpert die Öffnung in eine weltweite Moderne, und er verkörpert die Schließung in eine individuelle, idiosynkratische, subjektivistische Sonderzone. Beides zugleich macht die Kunst des 20. Jahrhunderts aus. Richard Gerstl, der nur 25 Jahre alt wurde, hat sie vorab, wenn auch eher instinktiv, ausgelotet.
Mehr Texte von Rainer Metzger

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Richard Gerstl - Retrospektive
24.02 - 14.05.2017

Schirn Kunsthalle Frankfurt
60311 Frankfurt am Main, Römerberg
Email: welcome@schirn.de
http://www.schirn.de
Öffnungszeiten: Di - So 11.00-19.00 Uhr, Mi - Sa 11.00-22.00 uhr


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: