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Quadratur des Kreises

„Der Zeichner des liegenden Weibes“: Als Albrecht Dürer das verschrobene Blatt in die zweite Auflage seines Lehrbuchs von der „Underweysung der Messung“ aufnahm, war er schon zehn Jahre tot. Es ist kein Hauptwerk, womöglich stammt es auch nicht vom Meister aus Nürnberg. Mann und Frau hantieren dabei in strengstem Vis-à-vis, und was sie treiben ist auf das Brachialste geschlechterkonform. Links räkelt sich ein kaum bekleidetes Wesen in obligatorischer Nimm-Mich-Haltung, rechts ist einer eingespannt in seine optische Apparatur und er deutelt und dünkelt mit Blicken an dem Geschöpf gegenüber herum: Nackt gegen angezogen, passiv gegen aktiv, Objekt gegen Subjekt des Sehens - das entsprechende Repertoire. Interessant ist die Trennscheibe zwischen ihnen, denn sie führt, man erkennt es an der Helligkeit des papierenen Untergrunds, der sie heraushebt, ein Eigenleben. Das Muster aus Quadraten, das sie perspektivisch verengt zu erkennen gibt, besteht nicht allein aus Schnüren; vielmehr sind diese Linien einer Art Tuch appliziert, und das Blatt versucht aus Leibeskräften, das in seiner eigenen Materialität darzustellen. Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes, Holzschnitt, 7,5 × 21,5 cm In dieser dann doch eklatanten Differenziertheit dient es Manfred Sommer als Einstieg in seine Untersuchung des langgezogenen Prozesses, wie der Mensch auf das Rechteck kam. Sommer ist Phänomenologe, er war einst Assistent von Hans Blumenberg und bis 2010 Professor in Kiel. Einschlägig bekannt wurde Sommer vor allem durch sein Nachdenken über das Sammeln, als Buch erschienen seine Überlegungen dazu 1999. Phänomenologie ist ja die Wissenschaft von den Trivialitäten, und genau die nimmt Sommer sich vor. Es sind diese drei, so offensichtlich, evident, selbstverständlich, dass man erst auf sie kommen muss: Der Acker, der dergestalt bestellt wird, dass er als Rechteck daherkommt; die Wand, die so gemauert ist, dass sie als Rechteck daherkommt; das Tuch, das sich einem Webstuhl verdankt - und entsprechend als Rechteck daherkommt. Es gibt ein Viertes zu diesem Trio, in dem sich das als Fläche Angelegte, das in die Vertikale Beförderte und das als Stoff und Textur Vorhandene verbinden: das Bild, die Haupt- und Staatsaktion der Kunst. Acker, Wand, Tuch verdanken sich der neolithischen Revolution. Die Zeit vor etwa elftausend Jahren ist ohnedies für mehr oder weniger alles zuständig, was wir heute voraussetzen. Städte oder Domestizierung, Züchtung und Veredelung von Tier und Pflanze wären weitere Errungenschaften. Doch Sommer geht es um den einen Mechanismus, der auf seine Weise funktioniert wie Mutation und Selektion: Es geht um Rektangularisierung und um Habitualisierung; also um die Erfindung des rechten Winkels und um die Tendenz, aus diesen 90 Grad eine Angewohnheit zu machen, die man seither beibehielt. Sommers Ausgangspunkt ist das Feld. Es wurde, am Labyrinth hat es sich erhalten, natürlich zunächst als Kreis angelegt – wie es auch im primitiven Aufschichten von Hütten erst einmal Rundbauten gab. Doch das Ziehen von geraden Linien und das Vollziehen von vollständigen Kehren erwies sich als praktikabler – mit Dutzenden von selbst gemachten, etwas linkischen, aber in ihren Bemühungen vor dem Fond von Dürer sympathischen zeichnerischen Skizzen macht es Sommer wunderbar nachvollziehbar. Maßstab ist ihm der gesunde Menschenverstand, von dessen ungebrochener und schier unveränderter Aktualität über die Jahrtausende hinweg Sommer schlechterdings ausgeht. Ein wenig Kultur hilft ihm bei seiner Argumentation – doch alles diesbezüglich Überkommene beleuchtet nur das Ende des Prozesses. Das ist Sommers Schluss-Satz, so profund und probat wie das ganze Buch: „Es ist, als hätten wir dieselbe Textur, die wir im Feld waagrecht angelegt haben, als Wand aufgerichtet und dann als Stoff zur Mobilität befreit; als wiederholten wir mit dieser Abfolge die elementare Bewegung des Aufstehens zum aufrechten Gang, die wir evolutionär längst hinter und doch, trivial genug, täglich vor uns haben.“ Sommer-Lektüre. Was will man mehr. Manfred Sommer, Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur, Berlin: Suhrkamp 2016
Mehr Texte von Rainer Metzger

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