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Der Wind weht nach Norden

Deutschland in Athen vor der Documenta

Das sandfarbene Gebäude erhebt sich als feste Bühne über der Stadt. Es sitzt auf einem robusten Sockel aus Kalk. In der Mitte des Postaments befindet sich ein Relief eines Sterbenden. Er sinkt zu Boden. Davor halten Soldaten Wache. Sie ehren Krieg und Tod, tragen Filzkappen und Faltenröcke. Die hellblauen Dächer ihrer Wachhäuser nehmen die Farbe der Fahne auf, die über dem Dreiecksgiebel flattert. Eine mobile Absperrung schützt das Gelände. Das Gitter hält Demonstranten ab, die hier fallweise zu Kundgebungen zusammentreffen. Das dorische Portal wartet trotzig auf solche Zudringlichkeit. Die Abfolge von modernen Gitterstäben, antikisierenden Säulen und schweren Lisenen schafft eine rhythmische Ordnung in unbestechlicher Waagrechte. Allein die Tauben scheinen unbekümmert. Jeweils sieben Joche finden sich an den flankierenden Gebäudeteilen. Die Symmetrie dehnt sich bis in die Augenwinkel. Es ist ein Klassizismus, der sich Anleihen aus der Frührenaissance borgt, aber mehr noch auf Erfahrungen aus dem Norden baut. Friedrich von Gärtner (1791-1847) ist der Architekt des Gebäudes. Er baut die Bayrische Staatsbibliothek, die berühmte Feldherrnhalle mit den beiden Löwen am Odeonsplatz, die Ludwigskirche und das Universitätsgebäude der Ludwig-Maximilian Universität. München, das sich heute rühmt, die nördlichste Stadt Italiens zu sein, ist das architektonische Ideal für das historistische Athen. Es kommt zu einem doppelten Transfer. Deutsche Architekten wie Schinkel, Klenze und Gärtner emigrieren zu Anfang des 19. Jahrhunderts das antike Griechenland nach Berlin und München, um es von dort aus wieder zurück zu transferieren. Eine humanistisch durchwaschene Antike kehrt zu ihrem Ursprung zurück, freilich gefiltert durch nordischen Plangeist und kühle Einfalt. Der kulturelle Import-Export ist, als wäre die amerikanische Pizza Vorbild für die italienische. Athen zählt damals sage und schreibe 8000 Menschen. Es gibt genügend Baulücken und Brachen, ähnlich wie nach der Wende in Berlin. 1834 wird die mickrige Ansiedlung zur Hauptstadt. Das Gebäude (erbaut zwischen 1836-1843) ist der Königspalast, den Bayerns König Ludwig I für seinen Sohn Otto und seine Gemahlin Amalia, das erste Königspaar Griechenlands, errichten lässt. Der König ist bei der Thronbesteigung minderjährig. Ein Beamtenheer geführt von einem Regenschaftsrat wird installiert, um den griechischen Staat als Nation zu organisieren. Mit zwanzig übernimmt Otto im Stil eines absoluten Monarchen. Der beamtische Ordnungsdrang wird nicht besser. Steuern werden eingetrieben, Kataster gezeichnet, Auflagen ausgesprochen, Bewilligungen erteilt oder vorenthalten. Den Griechen geht die bayrische Verwaltung zu weit. 1862 kommt es zum Aufstand. Der König wird gestürzt. Es folgt Georg I, ein anderer deutscher Adelsspross, diesmal aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Griechenland wird größer, wäschst rasant, immer mehr Gebiete des kränkelnden osmanischen Reiches kommen hinzu. Infrastruktur und Staatshaushalt sind den Anforderungen nicht gewachsen. Vor allem der Export bricht ein. 1893 kommt es zum Staatsbankrott. Kommt Ihnen das bekannt vor? Das Gebäude durchlebt danach weiter bewegte Jahre. Der Palast dient als Flüchtlingsunterkunft und später als Museum für aristokratische Devotionalien. Heute beherbergt er das griechische Parlament. Die “Institutionen” aus dem Norden gibt es immer noch. Die Fahne weht in ihre Richtung. Denn der Wind richtet sich vom Hoch zum Tief und meint damit weder Stimmungs- noch Finanz-, sondern nur die Wetterlage.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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