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Sacre-Denis

Alle Städte haben viel Hässlichkeit. Damit sind nicht jene Industriebrachen, Tankstellen-Supermarkt-Outlet-Säume oder sonstige entropischen Orte gemeint, die den Urban Sprawl ausmachen. Eher damit gemeint ist zum Beispiel der Schlot der Wiener Müllverbrennungsanlage Spittelau, der samt anliegendem Gebäude von Hundertwasser verwüstet wurde. Er ist gut gemeint und damit das Gegenteil von gut. Er ist, mit einem Wort, Kitsch. Das Schlimme daran ist, dass man ihn von schier jeder Ecke der Stadt sieht. Rechts oder links vom Steffel tut sich immer eine überdimensionierte Christbaumkugel auf. In Paris haben sie auch so etwas. Da tut sich links oder rechts vom Eiffelturm immer das nicht minder an Christbaumbehang erinnernde Wolkenkuckucksheim von Sacre-Coeur auf. Sie haben es auf den Montmartre-Hügel gestellt, damit es nur ja jeder sieht. Wer es heute morgen auch in voller Breitseite zu Gesicht bekam, vierspaltig über die halbe Blattlänge auf der Seite Drei verabreicht, waren die Leser der „Süddeutschen Zeitung“. Als Bildtext stand darüber: „Im Vordergrund die Kathedrale von Saint-Denis. Sie ist berühmt für ihre Königsgräber. Im Hintergrund das Stade de France, Ort der Eröffnung und des Finales der EM.“ Tatsächlich lugt aus der dunstigen Bläue des Fonds der berühmte Tellerrand des Stadions hervor. Doch das Riesenbackwerk im Vordergrund, das ist Sacre-Coeur. Seite Drei der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juni 2016 Nun ist es auch eine Art Einstimmung auf die Fußball-EM, dass man als Zeitungsredakteur zwar jedes Stadion dieser Welt kennt, aber mit Kathedralen nichts Rechtes anzufangen weiß. Die ausufernde Reportage, die das Foto umgibt, erzählt von eingefleischten Bewohnern der Vorstadt, wie sie ihr Dasein nicht eben splendid fristen und „Kraft bei der Morgenmesse in Frankreichs berühmter Königsbasilika finden“. Die beiden Berichterstatter scheinen sie dabei eher selten begleitet zu haben. Sich beim Einmontieren des Textes in das Blatt im Fotoressort rückzuversichern, scheint auch keine rechte Gewohnheit. Saint-Denis ist nicht weniger als die Gründungskirche der Gotik. Gotik wiederum ist jene Epoche, in der es zum ersten Mal auf Sichtbarkeit ankam. Vorher haben die Leute ihren Glauben schlichtweg geglaubt. Nun wollten sie sehen, was man ihnen an göttlicher Gewissheit verabreicht. Deshalb die Transparenz, die vielen großen Fenster und die luftigen Räume. Saint-Denis wurde gebaut, weil die Königsgräber, die bisher unter der Erde lagen, an die Oberfläche befördert worden waren. Der Chor, ab 1137 gebaut, ist eine Art Schrein für sie. „Edel leuchtet das Werk“, so heißt es an der Fassade, „und das Werk, das edel leuchtet, möge den Geist erleuchten“ (Für die Humanisten: „Nobile claret opus, sed opus quod nobile claret, clarificet mentes“). Saint-Denis ist auch so etwas wie der Gründungsbau der Aufklärung. Man würde meinen, unsere Zeit könnte sie darin wiederfinden. Doch wir stehen vor der EM. Und da genügt es, Kultur mit Fußball kurzzuschließen. Was hiermit auf seine Art getan ist. Mehr von meiner Seite gibt es dazu nicht. die Kathedrale von Saint-Denis. Foto: Thomas Clouet / Wikimedia Commons
Mehr Texte von Rainer Metzger

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