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Libertärer Paternalismus

Das Bild der Fliege in neuer Rolle


li: Petrus Christus: Portrait eines Karthäusers, Öl/Holz 1446, Metropolitan Museum New York, Ausschnitt, re: Urinal mit Fliegenmotiv

Das eine mal klettert sie am unteren Bildrand, knapp über dem Namen des Malers. Das andere Mal über dem Schlund, durch den das Wasser abfließt: die Fliege. Seit der Renaissance ist sie Merkmal des Realen im Bild, zugleich Träger von Symbolkraft. Neuerdings ein Trompe l’lœil als Zielscheibe. Wer sie trifft, hat gewonnen, und nicht nur er, sondern die ganze Gemeinschaft. Pinkeln im Dienst der Allgemeinheit. Zumindest will es eine modische Theorie so. Aber von Anfang an: Stellen Sie sich einen Tag wie immer vor. Gedankenlos gehen Sie mittags in die firmeneigene Kantine, den Imbiss nebenan, die Pizzeria um dem Block. Die Auswahl an der Theke ist geläufig. In der Glasvitrine die Gerichte des Tages. Manchmal sind die schonenden Mahlzeiten ganz vorn, der Salat, das Müsli, das Obst, die vegetarische und vegane Kost. Das andere Mal das Derbe. Sie lassen sich nicht immer lenken, aber auch nicht selten. Und das ist der Effekt, auf den es ankommt. In Supermärkten haben Gemüseregale Spiegel, damit das Gesunde schmackhafter und die eigene Figur schmerzhafter werden. Der Sprühnebel kommt dazu, er hält nicht nur frisch, sondern ist schön anzusehen. Erinnert an die Tropen. Natürlich gibt es das Gegenteil, die grobe Warnung. Das Schockierende fällt mit der Tür ins Haus, allen voran bei den gefürchteten Zigarettenschachteln. Nachdem die Sprache keine Abhilfe schafft, reagiert die EU mit optischen Mitteln. Freilich haben Findige schon Etuis auf den Markt gebracht, die die drastischen Motive verstecken. Positives Verstärken und negative Abschreckung, Boni oder Bestrafung, sind Mittel zur Verhaltenssteuerung. In der Kunstgeschichte gibt es seit jeher beides: Verlockung ebenso wie Lust am Ekel. Doch sie waren selten getrennt, meistens verzahnt. Man denke nur an die Stillleben mit ihren Leckerein, dem hedonistischen Prunk und ihrem Hintersinn, als Vanitas, Todesdrohung oder Warnung vor dem ethischen Verfall. 2008, in dem Jahr, in dem die Wirtschaftswissenschaften von der Realität eingeholt wurden, veröffentlichen Richard Thaler und Cass Sunstein ihre Theorie von den Nudges. “Es geht um einen völlig neuen politischen Ansatz. Man kann ohne Gesetze und Verordnungen seine Ziele erreichen,” sagt Cass Sunstein. Die beiden meinen die Verhaltenssteuerung im Kleinen. Wohl gemerkt im Sinne positiver Verstärkung. Sie gehen davon aus, dass der Mensch kein Homo Oeconomicus ist, er handelt nicht rational, sondern intuitiv. Wir machen viel, das wir am nächsten Tag bereuen. Das lässt sich steuern. Wird an einem Kantinenbuffet Obst in Griffnähe angeboten, wird es öfter konsumiert als gesundheitsschädliche Chips und Donuts. Überweist der Arbeitgeber einen Teil des Gehalts direkt auf ein Sparkonto, wird das Geld nicht gleich vertranschelt. Ist jeder ein Organspender (wie potentiell in Österreich: 99,98 %), oder nur der, der dies zu Lebzeiten verfügt (wie in Deutschland: derzeit 12 %)? Das bekannteste Beispiel ist die Fliege in den Urinoirs. Nach Studien verursachen 80 % der Männer mit konkretem Jagdziel weniger Kollateralschäden als ohne. Sind diese “Anstupser” (so die übliche deutsche Übersetzung von “nudge”) nun der Weg in eine bessere Gesellschaft oder ein verborgenes Teufelszeug? Die Politik war schnell bereit, die Vorschläge aufzugreifen. Sowohl die Administration Obama als auch jene des britischen Premiers Cameron starteten eine Nudge-Initiative. Seit Ende 2014 arbeiten offiziell drei Referent/innen des deutschen Bundeskanzleramtes an der Umsetzung von Nudge-Techniken. Es sind Wirtschaftswissenschaftler/innen mit psychologischer Zusatzausbildung, versteht sich. Die Regierungen sehen in Nudges effektive Werkzeuge, die auf das Wohl der Bürger/innen Einfluss nimmt. Fraglos sind sie eine Alternative zu Zwangsmaßnahmen wie Geldstrafen, Verpflichtungen oder Verboten. Problematisch ist allerdings die Lenkung von oben. Der Libertäre Paternalismus (der Begriff stammt von den beiden Autoren) ist eine Denkungsart, die als Erziehungsmodell staatlicher Aufsichtsorgane operiert. Abgesehen davon, dass infrage steht, ob nicht die Grundrechte mit ein paar Kniffen untergraben werden, so wird übersehen, dass mit jeder positiven Verstärkung zugleich ihr Gegenteil wachgerufen wird. Ohne Dialektik ist Affirmation nicht zu denken. Es ist wie bei der Fliege, die ihren Platz in Bildern gefunden hat. Als Sujet macht sie eine Gratwanderung. Einerseits folgt sie dem Bedürfnis, die strengen Moralvorstellungen des Mittelalters zu erfüllen – sie war Sinnbild der Korruption, der Kurzlebigkeit, des Ekels und des Teufels: der Beelzebub ist der Herr der Fliegen. Andererseits zeigen sich in ihr malerische Raffinesse und wirklichkeitsgetreue Abbildung. Sie ist Diesseits und Jenseits, Lockmittel und Menetekel, Genuss und Verderben, Kauflust und Abscheu.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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