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Chinese Whispers: Kunstgeschichte extern

Die weltweit bedeutendste Sammlung mit Chinesischer Gegenwartskunst wurde nicht von einem Chinesen, sondern vom heute 70jährigen Luzerner Uli Sigg zusammengetragen. Das klingt wie ein Märchen – welches das kommunistische China und die basisdemokratische Schweiz, eigentlich planetenweit voneinander entfernt, verbindet. Der gelernte Jurist kam im Auftrag eines Schweizer Firma nach China, baute das erste Joint-Venture-Unternehmen zwischen China und dem Westen auf, wurde Schweizer Botschafter in Bejing und wollte das ihm fremde Land über die Gegenwartskunst, die sich damals, ab den 1970er Jahren erst nach westlichen Massstäben zu entwickeln begann, kennen lernen. Neugier liess ihn von Atelier zu Atelier wandern – KünstlerInnen und ihre Werke im Geheimen aufspüren. Der chinesische Staat besaß keinen Kunstbetrieb nach westlichem Modell. Kein chinesisches Museum konnte sich der eigenen Gegenwart widmen. Aus Passion wurde Leidenschaft, aus Leidenschaft ein Lebenswerk, aus dem Kunstliebhaber ein Spezialist: Uli Sigg füllte institutionelle Lücken und baute als Erster systematisch eine Sammlung auf – mit 2.300 Werken und 350 KünstlerInnen nun die weltweit bedeutendste. Die chinesische Gegenwartskunst vom Ende der 1960er Jahre, der Kulturrevolution, bis heute ist anhand aller gängigen Medien dokumentiert. 2004 wurde eine Auswahl der Sammlung unter dem Titel „Mahjong“ 2005 zum ersten Mal im Kunstmuseum Bern präsentiert. Die jetzige Ausstellung ist noch umfangreicher, bespielt gleichzeitig neben dem Kunstmuseum Bern das Zentrum Paul Klee in Bern – insgesamt stolze 4000 Quadratmeter, 150 Werke, zum Teil raumfüllende Installationen, sind zu sehen. Die Schau widmet sich jetzt den letzten 15 Jahren – manche Werke sind erst jüngst entstanden. Vergleicht man die beiden Ausstellungen ist eine Entwicklung hin zu mehr medialer Vielfalt, differenziertere Themen und Individualstile festzustellen. Künstlerische Konzepte und Materialien entsprechen jenen bei uns. Diese Vielfalt war zu Beginn der zeitgenössischen chinesischen Kunst in den 1960er Jahren nicht so. Da ging es erst mal um das Nachholen, Studieren der europäischen Vorbilder. Uli Sigg sagt, die chinesische Kunst war damals 30 Jahre zurück, 2005 wohl nur noch wenige Jahre. Nun sei sie in einer globalen Aesthetik angekommen. Wobei interessant zu beobachten ist, dass bei einigen Kompositionen sich zudem Bezüge zur traditionellen chinesischen Kunst ergeben, ablesbar anhand des flächigen Raumverständnis. Die Kuratorin Kathleen Bühler schaut mit von unserer Kultur geprägten Perspektive auf die Kunst und wählte den Titel „Chinese Whispers“, übersetzt „Stille Post“ als Methapher für Unverständnis und ein „Spiel über Missverständnisse“. Für ein wirkliches Verständnis der Exponate hilft uns die unsrige Perspektive im Ausstellungsraum nicht. Wir haben das Glück, wunderbare Werke zu sehen. Wir können diese fachlich in ihrer künstlerischen Qualität schätzen und bewundern. Wir können grundmenschliche Haltungen teilen. Doch wir bleiben in einem Verständnis wohl eher an der Oberfläche hängen. Obwohl zum Grossteil realistisch ist es schwer, ohne Verständnis des kulturellen Kontextes die Werke ikonographisch angemessen zu deuten. Die meisten chinesischen KünstlerInnen erzählen über ihre eigene Erfahrung und damit auch über die Realität im China Heute – so wie andere KünstlerInnen weltweit. Meistens lassen sich die Werke damit auch ihrer Kultur zuordnen. Doch wir haben einen Nachholbedarf und benötigen Hintergrundinformationen zur Gesellschaft und dem (Künstler-)Selbstverständnis in China, die erst der umfangreiche begleitende Katalog (Prestel Verlag) gibt mit zwei Essays von chinesischen Fachleuten und Interviews der beteiligten KünstlerInnen. In der Ausstellung dominieren wie einst in der Sammlungspräsentation von 2005 Malerei und Figuration. Ob dies an den Vorlieben von Uli Sigg liegt, mögen weitere Begegnungen mit chinesischer Kunst zeigen. Uli Sigg hat 2012 an die 1.500 Werke dem M+ Museum in Hong Kong, das zehn Prozent des Schätzwertes dafür bezahlt hat, übereignet, darunter 60 % der 150 Berner Exponate. Ihm ist wichtig, dass sich die Chinesen mit ihrer eigenen jüngsten Kunstgeschichte auseinandersetzen können. Obwohl von vielen Museen als Schenkung angefragt, hat er sich für das M+ Museum in Hong Kong entschieden, da sich, wie er gegenüber des artmagaine.cc sagt, „die Interessen sehr gut gematcht haben“ und „die gezahlte Summe von 23 Millionen Dollar für ihn nicht ausschlaggebend gewesen“ sei. 2019 wird dieses Haus mit rekordverdächtigen 60.000 Quadratmetern Nutzfläche eröffnet und bietet viel Platz, da eine eigene Sammlung quasi inexistent sei. Ein Teil seiner Sammlung soll dort den Grundstock bilden und dann auf mindestens 5.000 Quadratmetern ausgestellt sein. Zunächst einmal für drei Jahre. Was dann geschieht, muss er dem Haus überlassen. Manche KünstlerInnen – und hier ist allen voran der berühmteste in seiner Sammlung, Ai Weiwei, der derzeit in Berlin lebt, zu nennen, sind sehr regimekritisch. Uli Sigg, hofft, dass die kulturelle Freiheit in China auch künftig gewahrt und damit eine Präsentation seiner Sammlung gesichert ist. Die Wiener haben das Glück, bevor die Werke nach Hong Kong gehen, vom 18.01.-16.04.2017 einen Ausschnitt im MAK zu sehen.
Mehr Texte von Andrea Domesle

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Chinese Whispers
19.02 - 25.09.2016

Kunstmuseum Bern
3000 Bern, Hodlerstrasse 12
Tel: +41 31 328 09 44, Fax: +41 31 328 09 55
Email: info@kunstmuseumbern.ch
http://www.kunstmuseumbern.ch
Öffnungszeiten: Di 10.00 - 21.00, Mi - So 10.00 - 17.00

Zentrum Paul Klee
3006 Bern, Monument im Fruchtland 3
Tel: +41 31 359 01 01, Fax: +41 31 359 01 02
Email: info@zpk.org
https://www.zpk.org
Öffnungszeiten: Di - So 10-17 h


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