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Im Epizentrum einstiger Sowjetkultur

Ortswechsel auch hier. Was für viele Biennalen und insbesondere jene in Moskau gängiges Prinzip ist, spielte auch heuer eine wichtige Rolle: die Überlegungen zum Austragungsort. Der symbolträchtige Pavillon Nummer eins im BД HX bzw. dem VDNKh allerdings galt erst als eine Art Ausweichquartier. Die nach einem Brand renovierte Manege nahe dem Kreml stand nämlich nicht zur Verfügung, was hinter vorgehaltener Hand mit Kostengründen argumentiert wird. Durch den geschwächten Rubel sei das Budget von 2,5 MIO US-Dollar auf kolportierte 800.000 USD geschrumpft. So fiel die Wahl auf diese Ikone der Sowjet-Architektur, womit durch das signifikante Gebäude selbst eine Reihe von Bedeutungen ins Spiel gebracht werden, die das Kuratorenteam mit dem Thema der Biennale zusammenführt. Es handelt sich um einen weithin bekannten Bau im Stil des sozialistischen Klassizismus; um das zentrale Denkmal im VDNKh, dem ehemaligen Ausstellungspark der Errungenschaften der Volkswirtschaft (Bыcтaвкa дocтижeний нapoднoгo xoзяйcтвa) mit noch mehreren ähnlichen Pavillons in der Umgebung. Die Größe der riesigen Leninstatue davor entspricht den gewaltigen Dimensionen der Parkanlage mit Hochbahn, angegliedertem Fun Park und nächtlichen Laser-Shows. Ab 1939 wurde hier der technische Fortschritt der UdSSR von Landwirtschaft bis Raumfahrt als Schauerlebnis für die ganze Familie inszeniert. Erinnerungen an sonntägliche Besuche gelten daher als identitätsprägend. Mittlerweile wirkt das Gebäude im Inneren wie ein triviale Lagerhalle, an deren Stirnwand übrigens gerade ein sozialistisches Fresko restauriert wird. Welche sentimentalen Erinnerungen nach dem Ausräumen der Pavillons zum Ende der Sowjetunion zurückblieben, zeigt eine städtische Umfrage 2014, wonach eine deutliche Mehrheit an Stelle der Umbenennung für die Wiedereinführung des alten, gewohnten Namens – VDNKh – eintrat. Im Herzen von Orwells Eurasia Eine bemerkenswerte Nostalgie. Untermalt wird sie von dem aus unzähligen Lautsprechern einlullenden Mainstream-Pop von »Radio-Chocolate«. Dem schmierigen Sound zu entkommen, scheint unmöglich. Man kippt in eine gespenstische Geborgenheit; ähnlich wie im kontrollierten Environment von George Orwells Roman »1984«. Die unwillkürliche Assoziation führt zum Motto der Biennale im Inneren des Pavillon. Das kuratorische Team, bestehend aus Bart De Baere, Defne Ayas und Nicolaus Schafhausen entlehnte die geographische Vorstellung eines Kontinents namens »Eurasia« tatsächlich Orwells dystopischer Erzählung, als es den Biennale Titel formulierte: »How to gather? Acting in a center in the heart of the Island of Eurasia.« Ja, es geht um Identitätsfragen: um die soziopolitische und kulturelle Bestimmung von Moskau als Global City in einer nur schwer zu verortenden Zone zwischen Ost und West, wo postsozialistischer Super-Kapitalismus und Alltag mit fast keinem Geld übergangslos nebeneinander liegen. Somit stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und die Wirksamkeit emanzipatorischer kultureller Diskurse in dieser multi-ethnischen Metropole, die in vielen Gebieten so offen wirkt wie Berlin in der 1990ern und dennoch jederzeit deutliche Grenzen ziehen kann. Es erfolgen hier im Pavillon Annäherungen an Fragen der künstlerischen Produktion. Welche Narrative werden aufgegriffen? Worauf basieren Akte der Symbolisierung? Welche Formen der Kommunikation oder der Recherche können künstlerische Projekte und Werke im urbanen Kontext herstellen? Hochinteressante Fragestellungen also. Dennoch dürfte das diesjährige Biennale Konzept mit seinem Laborcharakter selbst auf das abgebrühte Kunstpublikum irritierend wirken. Im Hauptprogramm angesagt sind 10 Tage performativer Interventionen im Inneren des Pavillon; parallel dazu Vorträge einiger weltweit relevanter Vortragender wie der Globalisierungstheoretikerin Saskia Sassen, des Architekten und Urbanisten Rem Koolhaas oder des marxistischen Wirtschaftswissenschafters und Mathematikers Yanis Varoufakis, der auch als griechischer Finanzminister bekannt wurde. Dass der Raum allerdings nicht einmal am Eröffnungstag einigermaßen gefüllt werden konnte, war ebenfalls irritierend. Ist die Szene in Moskau bereits so übersättigt, lag es an der mangelhaften Promotion des events, der sich vor Ort schlicht und einfach verliert? Erwartete man doch eine coole Ausstellung, oder ließ sich das Vorhaben einfach zu wenig vermitteln? Brennpunkt für Kommunikation und Debatte Die Biennale diesmal als hochspezialisierte Werkstatt mit experimentellem Charakter umzusetzen, anstelle einfach eine weitere Großausstellung zu bringen wirkt trotzdem ziemlich logisch. Es ist eindeutig der Versuch, sich an das lokale Publikum zu wenden und einen Brennpunkt für Kommunikation und Debatte zu schaffen. Mit den großen Ausstellungen zu konkurrieren, die Moskau ohnehin bietet, scheint nicht notwendig. Seit den Anfangsjahren der Biennale wurde das Angebot zeitgenössischer Ausstellungen und Projekte deutlich erweitert. Kürzlich eröffnete das Garage-Museum im Gorki-Park mit einem sensationellen Konzept, das neue Jewish Museum and Tolerance Center in der ehemaligen Bakhmetevsky Bus Garage bringt eine eindrucksvolle Anish Kapoor-Ausstellung, in der Manege geht eine Großausstellung zum Verhältnis von geographischen Repräsentationen und Politik über die Bühne. Peter Weibel im Moscow Museum of Modern Art oder die Großausstellung Seeing Sound im NCCA wären ebenso zu erwähnen; das und noch viel mehr ist Teil des Parallelprogramms der Moskau Biennale. Umso verständlicher, wenn Defne Ayas zu dem performativen work in progress-Konzept im Biennale Pavillon erklärt »Wir wollten davon wegkommen, dass alles fertig ist und gleich auf Instagram verfügbar«. Und Nicolaus Schafhausen polemisierte gegen das Konzept einer »Retail-Show« für die einfach Werke bestellt und dann wieder abtransportiert würden. Stattdessen wird tatsächlich zehn Tage lang vor Ort gearbeitet und dies dann bis 1. November als Dokumentation präsentiert. Zum Teil Essen die Mitwirkenden hier sogar gemeinsam. Polemik gegen Biennale als Retail-Show Was gelegentlich wie beiläufig wirkt, erschließt sich konzeptuell erst so nach und nach: Wenn Fabrice Hybert BesucherInnen in Rohöl porträtiert (nicht in Öl) verwendet er wohl eine der wirtschaftlich bedeutendsten Substanzen; bloß wandert das Öl auf dem Papieruntergrund, womit sich auch noch Material- und Repräsentationsfragen auftun. Dass Luc Tuymans ein mehrere Meter hohes und ebenso breites Riesenporträt eines orthodoxen Mönches malt, wirkt geradezu wie eine Strategie zum Schutz der Kunst. Weder kaputt machen, noch allzu leicht abtransportieren lässt sich dessen Werk; vielleicht eine Maßnahme gegen die in letzter Zeit zunehmenden Angriffen auf zeitgenössische Kunst durch Mönche der orthodoxen Kirche. Während Alevtina Kakhidze in einem Live-TV-Programm »Future News« bringt, wird Nicolaus Schafhausen von Mian Mian täglich einmal zu Gender-Themen und freier Meinungsäußerung befragt. Elena Kholkina hingegen interviewt ausgewählte Besucher zu ihren Eindrücken, was sie per Toninstallation wiedergeben möchte, über den Ausstellungspavillon und arbeitet an einer Foto-Serie mit nächtlichen Aufnahmen speziell ausgewählter und mit Blitz ausgeleuchteter Gebäudeteile. Liam Gillick wird als Geist des Programms an unerwarteter Stelle auftauchen, während Anna Jermolaewa sich ins politische Geschäft einmischt und zwei Demonstrationen mit bezahlten TeilnehmerInnen organisiert: eine für die Biennale und eine dagegen. Burak Arikan hingegen untersucht in einem workshop reale soziopolitische Zusammenhänge, die dann per mapping aufgezeichnet werden. Noch konkreter der Biennale Beitrag von Yves Maes, der das VDNKh bereits öfter besucht und historische Foto-Aufnahmen recherchiert hat. Die von ihm gestaltete Ausstellungssituation basiert auf stereoskopisch präsentierten Fotos, die jeweils Vergangenheit und Gegenwart repräsentieren. Was darüber hinaus passiert, ausgestellt, performativ erschlossen wird, lässt sich am besten über die Website der Biennale erfahren und vor Ort erkunden. Besonders für die kommunikativ gut vernetzte und im Improvisieren geübte lokale Kunstszene, könnte der Pavillon zum Treffpunkt, zu einem Parcours für Erfahrung und Austausch werden. Ihn zu einem Hot Spot der Gegenwartskunst aufzubauen, das jedoch gelang während der Eröffnungsphase nicht; obwohl das Konzept dieser Biennale derart viele plausible Ideen vereint. Es wirkt offen und sympathisch. Anstatt großspurig aufzufahren, kein aufgeblasenerer Event, sondern ein Ort der kritischen Debatte und der fein austariertem Reflexion künstlerischer Konzepte im Spannungsfeld zwischen ausgerastetem Markt und kritischen Diskurs. Angesichts der fehlenden Magnetisierung wird spannend, wie die Ergebnisse der performativen Interventionen dann in die nachfolgend geplante, einmonatige Ausstellung übergeführt werden. Jenes Konzept aber, das im Vorfeld noch ein wenig diffus und eher rätselhaft wirkte, ist nun voll aufgegangen. Anstatt die großen Welterklärungsmodelle zu bieten, liefert es einen intelligenten Baukasten und zahlreiche Andockstellen entlang brisanter Fragestellungen der Gegenwart. -- 6th. Moscow Bienniale Bis 1. Oktober 2015: Biennale happens in the moment 2. Oktober bis 1. November 2015: Biennale documentation show 6th.moscowbiennale.ru
Mehr Texte von Roland Schöny

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