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Nocturnaler Physikalismus

Wellen in südlichen Gewässern und an nördlichsten Himmeln

Wer abends am Hafen des Istanbuler Stadtteils Beyoğlu Platz nimmt, sieht in der Ferne die asiatische Seite glimmen. In der Nähe blenden die Scheinwerfer der Fähren, die Gäste auf folkloristische Ausfahrten ins Schwarze Meer locken. Lichter kräuseln auf der Oberfläche des aufgewühlten Meeres. Von Impressionismus müsste reden, wer diese Erscheinungen ins Bild bannt; – von Physikalismus, wer versucht ist, die Gesetze des flüssigen Nachspiels zu erkunden. Wie lassen sich Wellen angemessen beschreiben? Wie sie abbilden? Wie die Lichter kennzeichnen, die im Seegang tanzen? Wie verteilen, verbreiten, bremsen sich pechschwarze Wogen? Die diesjährige Istanbul-Biennale sucht nach der Motivation des Meeres, des salzigen zumal, ein schöner Gedanke, der in der türkischen Millionen-Metropole nicht nur historisch und topografisch gerechtfertigt ist, sondern auch einen seltenen Aspekt eröffnet: die Frage nach der Berechenbarkeit der Welle. Es geht um die Physik fluider Existenz. Eine erste Annäherung geben Ania Solimans minimalistische Dinganordnungen. Die 1970 in Warschau geborene nimmt einzelne Messgeräte aus der Sammlung des Pera Museum auf. In einer Vitrine am Boden findet sich neben betongrauen Kugeln eine Skizze einer Welle: Brechung und Berechnung sind auf dem vergilbten Blatt sichtbar. Ania Soliman, Istanbul Biennale, Pera Museum Vor wenigen Wochen war Cédric Villani in Bregenz zu Gast. Villani ist Fields-Medaillen Träger und einer der bedeutendsten Mathematiker der Gegenwart. Der Franzose beschäftigt sich mit der so genannten Landau-Dämpfung. Sie bezeichnet ein verworrenes physikalisches Phänomen. Während Flüssigkeiten nach Harmonie streben, zielen Gase auf Entropie und Regelzerfall. Dazwischen stehen Plasmen, die sich dehnen und dennoch dabei selbst bremsen. Plasmen verhalten sich wie Gase, andererseits neigen sie spontan zu Selbstausgleich wie Flüssigkeiten. Das ist paradox. Entdeckt wird das irritierende Phänomen von dem russischen Physiker Lew Landau in den 1940er Jahren. Ein mathematischer Beweis fehlte bis vor kurzem. Villani errechnete ihn mit umfangreichen Integralen und knifflig gesetzten Variablen. Dafür wird zum Direktor des Institut Henri Poincaré in Paris ernannt und ihm 2010 die mit dem Nobelpreis vergleichbare Fields-Medaille zugesprochen. Bei seinem Vortrag in Bregenz gibt er dennoch kaum mathematische Erklärungen ab. Überraschend hält er eine Rede auf die Kunst. Er sieht in ihr Anreiz und Denkmodell präzis verfahrender Fantasie, einen Testfall für gedankliche Neuerprobungen. Demnach gibt es derzeit nicht nur das zur Mode aufgestiegene Artistic Research. Auch die Variante wissenschaftlicher Kunstsinnigkeit hat ihre Vordenker. Fredrik Carl Mülertz Størmer (1874-1957), Istanbul Biennale, Arter Zurück nach Istanbuls Beyoğlu. In einem anderen Ausstellungsgebäude findet sich ein hundert Jahre älteres Beispiel ähnlichen Gedankenguts. Eine SW-Fotografie zeigt Fredrik Carl Mülertz Størmer eingehüllt in dicken Pelz zusammen mit seinem Kollegen Bernt Johannes Birkeland im nördlichsten Norwegen. Størmer ist Geophysiker und begnadeter Mathematiker. Kurz nach 1900 beschäftigt er sich mit der Aurora Borealis. Vieles deutet darauf hin, dass sein Interesse tatsächlich durch die Kunst angeregt wird. Størmer forscht in einer Zeit, in der die Oberflächenanalyse des Impressionismus die Angstfaszination des Expressiven ablöst. Systematisch geht er der Frage nach, ob das Polarlicht aus Reflexionen der Erde verursacht wird oder sich aus kosmischer Quelle speist. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Höhe. Durch synchrone Fotografien aus verschiedenen Blickwinkeln gelingt es ihm nachzuweisen, dass Polarlichter durch beschleunigte Partikel hervorgerufen werden, die auf magnetische Feldlinien treffen. Daneben nimmt Størmer präzise Berechnungen der Wellen vor. Seine Differentiale sind nicht zufällig jenen von Villani ähnlich. Doch es geht nicht um Dämpfung, sondern um Glühen. Størmer fotografiert die kühnen Polarlichter in Serie und baut Skulpturen, die ihre elliptischen Wirbel in Drahtgestellen nachzeichnen. Dem heutigen Blick mögen diese Modelle wie konstruktivistisches Formengut oder waghalsige Bühnenentwürfe erscheinen. Dennoch sind es mathematische Gleichungen. In räumliche Vorstellung übersetzt sind sie durch Kunstsicht inspirierte Physik.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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