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Travestie für Fortgeschrittene Teil 2: Training: Nichts für Faule

Ein Nachmittag wie jeder andere in einem deutschen Einkaufszentrum: Vor dem Schminkspiegel sitzt eine Frau, um einen der Lippenstifte im Angebot zu testen. Aber anstatt den roten Wachsstift auf ihre Lippen aufzutragen, umrundet sie diese sorgfältig mit einem dicken Strich und malt daraufhin mit seelenruhiger Präzision ihr Gesicht an. Das Video „Die schönen Dinge des Lebens“ von NAF (Nana Hülsewig und Fender Schrade) ist Teil der Installation „training“ des Duos hoelb/hoeb, die wiederum im Rahmen von Travestie für Fortgeschrittene in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig gezeigt wird. In drei Ausstellungsteilen inklusive Vorträgen, Workshops und Tanzaufführungen stellt das im Kontext aktueller politischer und gesellschaftlicher Debatten konzipierte Projekt Travestie für Fortgeschrittene subtil die Dinge auf den Kopf. Entgegen einer auf Ausgrenzungsmechanismen basierenden kollektiven Identitätsbildung und eindimensionaler (hetero-)normativer Denkbilder werden in der GfZK in Leipzig Perspektivwechsel eingefordert. Der aktuell zu besuchende zweite Teil des von Julia Schäfer und Franciska Zólyom in Zusammenarbeit mit Julia Kurz kuratierten Projekts ist ein Plädoyer für eine Gesellschaft der gleichberechtigten Verschiedenheit. In einem verwirrend guten Setting werden unterschiedlichste Erscheinungsformen von Dingen, Lebewesen, Körpern und Identitäten untersucht. Räumlich wie inhaltlich dominiert wird die Ausstellung von der Installation „training“ der österreichischen KünstlerInnen hoelb/hoeb. Fast eine eigene Ausstellung in der Ausstellung, kann es vorkommen, dass man sich schon einige Zeit in den Räumlichkeiten befindet, bis man versteht, was eigentlich zu dem von hoelb/hoeb konzipierten Setting gehört. Beim Eintritt in die „Spielstätte für einen inklusiven Humanismus“ – der ersten Teil von „training“ (der dieses Jahr auch beim imagetanz Festival im brut in Wien erlebbar war) – weist eine freundliche Dame darauf hin, dass das Berühren der Intensivbetten nicht erlaubt ist, der Gebrauch der Sportgeräte – Sprossenwand oder Medizinbälle etwa – aber von den KünstlerInnen ausdrücklich erwünscht ist. Zwischen lebenserhaltendes Mobiliar aus Intensiv- und Wachkomastationen hat das Duo Barbara Hölbing und Mario Höber Werke aus der Sammlung der GfZK gehängt: Eines von Markus Schinwalds manipulierten Gemälden ist da zu sehen („Howard“), eine Fotografie von Gundula Schulze Eldowy oder Andreas Gurskys „Bau Neues Messegelände“. Körperlichkeit und ihr (Nicht-)Funktionieren wird hier verhandelt – sei es die des Menschen, des Tiers, von Maschinen und Robotern. Hoelb/hoebs Settings sind nie nur statische Objektansammlungen, sondern schaffen dynamische Denkräume und Situationen der Begegnung. In der GfZK in Leipzig kommt diese Rolle dem Archivraum zu: An verschiedenen Terminen werden ExpertInnen zwischen Kulturwissenschaft, Geophysik und Sonderpädagogik zu Gesprächen eingeladen. Vergangene Gespräche sowie von den jeweiligen ExpertInnen bereitgestellte Materialien können an Lesepulten angehört und eingesehen werden. Im sogenannten Projektionsraum haben hoelb/hoeb als Teil ihrer Installation vier Videoarbeiten arrangiert. Abseits vom eingangs erwähnten Lippenstiftspektakel ist hier etwa Artur Zmijewskis Film „Singing Lesson 2“ zu sehen, in dem der polnische Künstler mit gehörlosen Kindern Bachkantaten einstudiert. Sich verändernde Konstante der Ausstellungsreihe ist Anna Witts Projekt „Durch Wände gehen“, dessen finale Form im dritten Teil von Travestie für Fortgeschrittene präsentiert wird. Gemeinsam mit dem syrischen Flüchtling Ashraf und der aus der DDR geflüchteten Alexa Dreesmann entwickelt Anna Witt (Preisträgerin des Preises „Europas Zukunft“ 2014) im zweiten Teil ein Filmskript, dessen fortschreitende Dialoge in einer raumgreifenden Installation zu lesen sind. Zu sehen ist auch der in der vorangegangenen Phase des Projekts entstandene Film, in dem die ProtagonistInnen gegenseitig ihre Erzählungen protokollieren. Henrik Olesen fügt in seiner Arbeit „1935/1922“ in die heterosexuell geprägten, bürgerlichen Szenerien der Collagen in Max Ernsts parodistischen Bildromanen „La femme des 100 têtes“ (1929) und „Une semaine de bonté“ (1934) männliche Körper in sadomasochistischen Posen ein und verweist so auf die Verdrängung von Homosexualität. Präsentiert als gerahmte Bilder sowie in Vitrinen mit Materialsammlungen aus den Olesens Quellen wird der Prozess der Bildverwandlung nachvollziehbar gemacht. Etwas abseits hinter dem Museumcafé platziert, ist noch Grit Hachmeisters Zyklus „Eimer und Schrank“ aus gezeichneten Tier-Pflanzen-Essen-Möbel-Hybriden abschließend gut im Vorbeigehen zu genießen. Travestie für Fortgeschrittene ist keine Ausstellung für einen faulen Tag – sollte der Besuch doch auf einen solchen fallen, kann man sich die Zeit entweder vor Hachmeisters Zeichnungen und bei anschließendem Käsekuchen vertreiben oder – besser – den Müßiggang mit einem von hoelb/hoebs Hula-Hoop-Reifen bekämpfen. Die dabei entstehenden Denkspiralen werden dafür bestimmt umso schöner. Versprochen.
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Travestie für Fortgeschrittene Teil 2: Training
11.07 - 11.10.2015

GfzK - Galerie für zeitgenössische Kunst
04107 Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 11
Tel: ++49-341 - 140 81 0, Fax: ++49-341 - 140 81 11
Email: office@gfzk.de
http://www.gfzk.de
Öffnungszeiten: Di-Sa 14-19 h / So 12-19h


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