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Labor statt Biennale

Die Art Basel muss sich noch nicht warm anziehen. Einstweilen starrt die ganze Kunstwelt nach wie vor jedes Jahr auf diese und andere Großveranstaltungen und bestaunt jedesmal aufs Neue die aktuellsten Milliardärsspielzeuge. Der Mittelstand ist dabei längst abgehängt. Das gilt für Sammler ebenso wie für Künstler und Galerien. Gleichwohl lässt ein ernstzunehmender breiter Diskurs über die Zukunft der Kunst auf sich warten. An der Basis tut sich hingegen etwas. Das ist abzulesen etwa in Berlin, dem Spielplatz des weltweiten Kreativnachwuchses, der längst dabei ist eine Plattform für sich zu entdecken, die ursprünglich geschaffen wurde, um einen abgestürzten Bezirk wieder an die Zivilisation anzuschließen. Mittlerweile finden sich an einigen Stellen Ansätze, die das Festival als Labor zum Nachdenken darüber nutzen, wie Kunstproduktion und -vermittlung diesseits des durchkommerzialisierten Luxuskonsumgütergeschäfts aussehen könnten. 48 Stunden Neukölln entstand vor 15 Jahren, um den abgehängten Bevölkerungsgruppen, der indigenen wie zugewanderten Unterschicht ein Instrument zur Integration und Identitätsfindung anzubieten. Mit der Wandlung zur globalen Hipsterzentrale hat sich in den letzten Jahren auch dieses Mitmachfestival verändert. Das ist schon daran ablesbar, dass im Untertitel nur noch von „Kunst“ die Rede ist und nicht mehr von „Kunst und Kultur“ und dass der Kinder- und Jugendbereich in eine eigene Parallelveranstaltung ausgegliedert wurde. Das Festival ist nach wie vor offen für jeden, aber nicht beliebig. Die diesjährige Veranstaltung steht unter dem Leitthema „Courage“, mit dem sich jeder Beitrag beschäftigen muss. Zumindest muss die Bewerbung irgendwie einen Zusammenhang mit dem Thema herstellen. Festivalleiter Martin Steffens erklärt das Prinzip: „Weil wir die 97 Prozent der Künstler vertreten, die nicht mit ihrer Kunst reich werden, haben wir auch kein Modul in der Jurierung, die Künstler ausschließt, die nicht schonmal irgendwo ausgestellt haben. Das Leitthema ist offensichtlich eine relativ hohe Schwelle, das hätten wir gar nicht so gedacht. Dadurch haben wir auch eine hohe Qualität, weil jetzt nur Leute ausstellen, die reflektieren.“ Entsprechend heterogen ist das Ergebnis, die Vielfalt kaum zu bewältigen. Andererseits lädt gerade diese Überfülle zum Flanieren und Entdecken ein. „Was wir anders machen, ist dass wir keinen White Cube haben“, erklärt Steffens. „Das Gegenbild ist, dass wir hier so ein Biotop haben. Im Programm sind rund 40 Galerien, Räume, in denen permanent Kunst verlauft wird und 60 Ateliers plus rund 150 Festivalorte, an denen kuratierte Ausstellungen stattfinden. Die haben sich zum Teil von auswärts beworben, aus Frankreich, Polen, aber auch aus Deutschland.“ Für die Hauptausstellung in einer tristen Shopping Mall haben sich Künstler mit einem Projekt beworben, die keinen festen Ort haben. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Multimedia-Projekte sowohl von professionellen Künstlern als auch von Menschen, die nicht aus dieser Szene sind, beschäftigen sich mit Oral History, Identitätsfindung und sozialen Fragen, also den Themen, die im internationalen Kunstdiskurs in dieser Gattung ebenso virulent sind. France Damian etwa lässt Bewohner Neuköllns aus aller Herren Länder in deren Wohnzimmern Märchen und Mythen aus ihrer Heimat erzählen, aus frontaler Nahsicht und ohne einzugreifen. Tine Schumann inszeniert in einer begehbaren Installation aus Zeichnungen, Pappfiguren und anderen Requisiten einen gewaltsamen Polizeieinsatz, in der der Betrachter im Doppelsinn Stellung beziehen kann. Ganz neue Erfahrungen machen zum Teil die Künstler selbst. Für das Projekt „Dutch Courage“ stellten sie 80 Künstler vor die Aufgabe, Bierkrüge aus Keramik selbst zu töpfern. Die wurden dann in Umkehrung der Vernissagesituation auf der Ausstellung für 10 Euro verkauft und mit Freibier gefüllt. Nicht nur fanden die Arbeiten bei einem ansonsten sicher eher kunstfernen Publikum reißenden Absatz. Die Künstler selbst mussten auch lernen sich mit einem Material auseinanderzusetzen, mit dem sie bestenfalls im Kunstunterricht in der Schule gearbeitet hatten. In den Straßen fanden sich dann unter den unzähligen Hinterhofateliers, provisorischen Wohnzimmergalerien und dekorierten Cupcake-Shops auch Projekte, die rein transitorischer Art waren. So fanden sich vier Künstlerinnen, die in Dresden und England studiert hatten, als fourforcubes in einer Hauseinfahrt zusammen, die sie mit raumbezogenen Objekten bespielten. „Das war schon eine bewusste Setzung von uns, diesen Ort hier auch ernst zu nehmen und nicht nur als olle Hofdurchfahrt“, erklärt Eileen Dreher ihre Motivation. Und funktioniert hat das Experiment anscheinend: „Ich bin total überrascht, wie gut das angenommen wird und was für Gespräche man hier führt. Die Leute sind viel offener, als man meinen könnte und setzen sich mit den Dingen auseinander.“ Und um die Auseinandersetzung geht es letztlich. So sieht das auch Steffens: „Wir wollen hier ja nicht Probleme von Neukölln lösen, sondern wir sind ein Art Labor, wo man sehr unterschiedlich Dinge ausprobieren kann.“ Das alles hat das veranstaltende Kulturnetzwerk Neukölln mit einem Festivalbudget von 60.000 Euro plus Spenden und ehrenamtlicher Arbeit auf die Beine gestellt. Der mit so großen Vorschusslorbeeren gestartete neue Kulturstaatssekretär Tim Renner, von dem man sich eine Erdung der Berliner Politik erwartet, hatte sich zur Eröffnung übrigens nicht blicken lassen. Einen Nachteil hat der Aufwärtstrend allerdings: „Wir werden professioneller, wir werden anders wahrgenommen und geraten jetzt auch plötzlich in die Kritik, etwa weil die Künstler anfangen zu denken, sie wären wir hier auf einer Art Berlin Biennale“, so Steffens. www.48-stunden-neukoelln.de/
Mehr Texte von Stefan Kobel

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