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Steirischer herbst Graz aka Paranoia TV: Altes Broadcasting

“Paranoia TV, formerly known as ‘steirischer herbst’“ kündigte Intendantin Ekaterina Degot bei einer ihrer zwei offiziellen Eröffnungsreden – oder waren es Performance-Lectures? – das diesjährige Festival an. Eine Rede lief auf einem der 99 Screens in Geschäften der Stadt und in der Paranoia TV App. Sie zeigte Degot – wie es im Untertitel hieß – in der Hofburg. Eine weitere hielt Degot vor wenigen geladenen Gästen und Journalist*innen im Außenraum. Eine hatte sie vorher aufgezeichnet, die andere verlas sie vom Balkon des Orpheum herab. In letzterer reflektierte Degot den Status der „Wenigen“ (live Zuhörenden) und ihr Verhältnis zu den „Vielen“, die am Bildschirm mit der Aufzeichnung Vorlieb nehmen mussten. Dass Degot von jeder der beiden Reden behauptete, sie sei „die echte“ blieb genauso rätselhaft wie die online und offline gleichermaßen royal anmutende Inszenierung der Kuratorin. Eine mögliche Satire autoritärer Regimes scheiterte an der Dünne der Fiktion und daran, dass Degot in ihrer Rolle der Kuratorinnenherrscherin allzu selbstverständlich aufging. Mit dem Abtransport vieler Screens am Tag nach der Eröffnung schien ein erster Höhepunkt des herbstes in der Stadt auch schon wieder vorüber zu sein. Auch wenn einleuchtet, dass der herbst als „altes Broadcasting Medium“ (Degot) auf die Metapher des guten alten Fernsehens zurückgriff, ward nicht deutlich, was damit – allegorisch, poetisch, politisch – eigentlich gemeint sein könnte. Paranoia TV schwankte scheinbar ungewollt zwischen hübschem metaphorischem Rahmen für die App und echter Fiktion, ein Umstand, an dem auch die großartige graphische Gestaltung nichts ändern konnte. Letztlich war der herbst dieses Jahr einfach ein Online Festival – mit Diskussionen über Zoom, Videos und Computerspielen in nostalgischem Gewand. Aber reichte die rein festivalhistorische Rechtfertigung dafür aus, dass dabei das Broadcasting, also das Senden, im Vordergrund stand und dem Empfang – oder gar dem Austausch mit einem möglichen Publikum – wenig Bedeutung zukam? Der „herbst“ folgt einer jungen Tendenz, die sich während der Lockdowns verstärkt hat: Broadcasten was das Zeug hält, ganz gleich, ob jemand zuhört. Immerhin passiert das hier auf höchstem Niveau. Statt abgefilmter Ausstellungen oder Performances, gibt es beim herbst eigens produzierte und digital gedachte Werke.

2008 schrieb James Elkins auch Kunstkritik werde „massiv produziert und massiv ignoriert“. Das scheint 2020 noch zu gelten – zumindest wenn man sich daran orientiert, was wir Kritiker*innen selbst schreiben: Eine Kritik im Standard ignoriert die in der Presse und die Kritik in Frieze tut so als sei die in Artforum nie erschienen (oder andersherum) – von Publikationen in anderen Sprachen oder aus anderen Gegenden der Welt ganz abgesehen. Besonders wenn die Kritiken online frei verfügbar sind, ist das nicht nur beschämend, sondern verhindert auch, dass Kritiker*innen – aufbauend oder kritisch – dort weiterdenken, wo andere aufgehört haben.

2020 wäre nicht 2020 ohne hermeneutisches Wohlwollen für Veranstaltungen, die eigentlich anders geplant waren. Immerhin hatten Degot und ihr Team im März – als das Programm des diesjährigen herbstes schon stand – noch einmal alles umgeworfen und ein Festival entwickelt, das auch bei einem „Full Lockdown“ funktioniert hätte. Dass dabei die wichtigsten Werke nur online sind, bedeutet, dass im Grazer Stadtraum wenig zu sehen ist. Dafür ist der herbst teilweise sehr erfinderisch und legt beispielsweise Pizzabestellungen Reproduktionen von lustigen aus der Erinnerung gezeichneten Karten von Graz und Wien bei. Erstere stammt vom Wiener Kollektiv Gelatin, letztere von den Grazern ASYNCHROME. Auch wenn Subtilität bei beiden eine untergeordnete Rolle spielt, vermitteln die Karten plastisch wie subjektive Stadterinnerungen sich von realen Geographien unterscheiden. Auch das Malbuch für Erwachsene Lucy ist krank von Roee Rosen, das das Thema Krebs behandelt, hat einen besonderen Distributionskanal: Es wird im Krankenhaus verteilt.

Leider sind spannende Orte wie das Kunsthaus, das Künstlerhaus, der Kunstverein, die Kunsthalle oder Rotor nun nicht mehr eingeladen, Ausstellungen zum Thema des herbstes zu produzieren. Obwohl sie – wohl pro forma – zum Parallel Programm zählten, erwähnte das herbst Team sie mit keiner Silbe. Bei der Presseführung wurden die Häuser selbst dann ignoriert wenn der Weg direkt an ihnen vorbeiführte und bis zur nächsten offiziellen Veranstaltung 2 Stunden Zeit blieben. Dass sie am Ende des gedruckten Programms doch noch erwähnt wurden, erschien wie ein Lippenbekenntnis zu einer Grazer Szene jenseits des herbstes, eine Tatsache, die Kritikerin Cindy Sissokho in einem Text für Ocula als Symptom einer mangelnden Integration der lokalen Communities unter Degots Leitung deutete. Während also die Intendantin die Utopie eines gleichmachenden Virus verkündigte und eine Website lobte, die den herbst von überall zugänglich macht, kam die Integration in Graz selbst zu kurz. Denn statt um Dialog ging es auch bei den sechs Multiples, die durch verschiedene Distributionskanäle verteilt wurden, um reines Broadcasting.

Cindy Sissokho vermisste bei diesen Anstrengungen “echte Brücken zur Community außerhalb des kulturellen Zentrums” und erkannte eine Herangehensweise wieder, die ihr „typisch für eine zeitgenössische Kunstwelt erscheint, die sich nicht bemüht, wirklich mit Menschen außerhalb ihrer eigenen Blase in Kontakt zu treten und eine Idee von Engagement und ‚Diversität‘ darbietet, während sie pedantisch behauptet, Kunst sei für alle da“. Dabei werden Werke einfach mit dem Fallschirm abgeworfen (parachuted), anstatt mit den Communities entwickelt oder ihnen wenigstens vermittelt zu werden.

Auch die indische Autorin und Kritikerin Rosalyn D‘Mello arbeitet sich an der Rede Degots ab. In  ihrem Artikel „The Freudian Glitch“ im indischen Online Magazin Stir – für das sie seit Anfang des Jahres von Südtirol aus korrespondiert – kritisiert sie die Behauptung der Intendantin, es gäbe „keine erste oder dritte Welt mehr“ weil „wir alle dasselbe durchmachen“. D‘Mello verweist dabei auf ein indisches Meme, das die Fantasie der gleichmachenden Macht des Virus zynisch kommentiert, indem es eine kleine Gruppe Menschen in einer Privatjacht einer anderen gegenüber stellt, die sich mühsam auf einem selbstgemachten Floss über Wasser hält. Nur von einer privilegierten Position aus, können wir an ein egalitäres Virus glauben. Selbst wenn alle die gleiche Chance hätten zu erkranken, haben doch nicht alle die gleichen Möglichkeiten, auf ihre Krankheit zu reagieren.

In den Eröffnungstagen kam in Graz selbst wenig Festivalstimmung auf. Statt dem dichten Programm früherer Editionen erlebten die internationalen Gäste, welche von offizieller Seite über die Existenz der großartigen Videoausstellung Image Wars. Macht der Bilder von Jana Franze im Künstlerhaus. Halle für Kunst & Medien (4 Juli – 8 Oktober 2020) genauso wenig informiert wurden wie über die Eröffnung zweier Ausstellungen im Grazer Kunstverein, viel Leerlauf. Leider sind die Hauptwerke des offiziellen Programms im öffentlichen Raum dieses Jahr nicht nur spärlich, sondern auch ziemlich zahm: Im Stadtpark tragen zwei sachte flackernde Laternen einander die Namen inexistenter Orte vor. Mit ihrem Ausweichen in die Imagination passt die Arbeit Dictionary of Imaginary Places (2020) von Vadim Fishkin damit in eine Zeit, die während eines Podiumsgesprächs an die Klimakrise erinnert und danach beklagt, dass man heuer nicht wie sonst im Sommer für 70 Euros auf eine Insel fliegen konnte. Dass die Laternen dabei mit Computerstimmen sprechen, scheint nicht zur Nostalgie des Werkes zu passen und ist wohl eine jener Nichtentscheidungen, die für den neokonzeptuellen Manierismus typisch sind. Leider stört die Form die Poesie einer Arbeit, die gleichzeitig zu ambig ist, um konzeptuell oder gar politisch produktiv zu werden. Auch Cindy Sisshoko stört die Reisenostalgie des Werkes. Sie weist darauf hin, dass das Werk den historischen Kontext des kolonialen Narrativs ausblendet, das eng mit der „Entdeckung“ „tropischer“ und „exotischer“ Orte verknüpft ist.

Ganz zentral, nämlich am Platz Am Eisernen Tor steht Akinbode Akinbiyis Installation Photo Booth (2020), eine Replik des Berliner Photoautomats, der aber jeweils nur ein einziges Porträt von uns mit Straßenphotographien des Künstlers kombiniert. Die Arbeit schafft es, das Publikum leichtfüßig zu integrieren und zu amüsieren. Akinbiyi selbst interessiert dabei der Moment, in dem die Photoserien zuhause am Kühlschrank hängen und plötzlich Orte und Menschen in Bamako, Berlin oder São Paulo bei uns mit unserem Selbstporträt in Beziehung treten.

Gänzlich hermetisch ist dagegen die schwer auffindbare Soundinstallation des Künstlers Lawrence Abu Hamdan in den Regalen des Spar Supermarktes. Sie soll irgendetwas mit Abhörtechniken zu tun haben, die Mikroresonanzen von Gegenständen aufzeichnen, um Gespräche mitzuhören. Während die Idee unglaublich spannend klingt, ist sie in der Umsetzung so enttäuschend wie zwei Lautsprecher im Chipsregal, die obskure Gespräche abspielen und erinnert stark an Robert Pfallers Kritik an „einer Vielzahl von künstlerischen Arbeiten bei Großausstellungen, die in der Anschauung vor Ort auch nicht um das Geringste mehr hergeben, als es ihre Beschreibung im Katalog oder in der Presseaussendung bereits getan hat.“ Komplett auf Englisch im deutschsprachigen Graz produziert auch dieses Werk – von dem die Sparangestellten in den ersten Tagen nicht einmal wissen, dass es existiert – Exklusion.

Das radikalste Werk im Stadtraum hat Cathrin Bolt entwickelt und in Kooperation mit dem Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark realisiert. Es war aber nicht Teil des offiziellen Programms: Ein EU Grenzzaun in Orginalhöhe, den die Künstlerin in Abstimmung mit den Hausbesitzern in einem Vorgarten platziert hat.

Am Abend des Eröffnungstages gab es schließlich noch ein offizielles Ereignis, das zum Erlebnis ward, gemeinsam aber physisch distanziert: Das Finale (2020) von Janez Janša, mit einem Text von Boštjan Narat. In über 100 Taxis ging es dabei für das Publikum durch Graz bis im Radio der Kommentar der zweiten Halbzeit des Fußball EM Endspiels 2020 – Corona-bedingt auch in der Fiktion mit künstlicher Geräuschkulisse – zu hören war, bei dem es nach jeweils zwei Eigentoren Deutschlands und Schwedens 2:2 unentschieden stand als wir begannen zuzuhören. Die Kommentatoren Uwe und Oliver kommentieren dabei nicht nur die Spielhandlung, sondern erlauben sich zahlreiche populärphilosophische Exkurse. Allein die Spielernamen geben ihnen zu langen Überlegungen Anlass: Spielt Islamović bei der einen, Islimović bei der anderen Mannschaft, wird die Einbürgerung von Spitzensportlern zum Thema; Homophobie kommt zur Sprache als von der Heirat des deutschen Fußballers Thomas Schneider mit dem Schweden Lars Bergson die Rede ist, so dass jetzt beide Bergson heißen. In den sozialen Medien, hört man, lässt die Einwechslung Bergsons die Zahl der Hassposts so sehr explodieren, dass auch die für Twitter zuständige Redakteurin einmal lieber nichts vorliest. Im Laufe des Spiels nehmen die philosophischen und gesellschaftskritischen Exkurse der Kommentator*innen ständig zu, so dass der Fußballkommentar, die Ereignisse auf dem Spielfeld und die Reaktionen der Zuhörer in den sozialen Medien letztlich zu einer Weltchronik verschmelzen, die eine äußerst gekonnte Imitation des Genres Fußballkommentar zum lustvollen Erlebnis werden lässt. Text und schauspielerische Leistung sind dabei so präzise, dass hier etwas gelingt, woran die fiktionalisierte Rahmenerzählung des herbstes scheitert: Es kommt zur willentlichen Aufhebung des Unglaubens. Wir fiebern mit Spannung dem Spielende und weiteren Kommentaren und Ereignissen entgegen.

Eigentlich müsste nun eine zweite Rezension beginnen, die sich ganz auf die Werke online konzentriert. Die live Gespräche zwischen Hito Steyerl und Mark Terkessidis über Cancel Culture oder zwischen Eva Illouz und Und Srećko Horvat über Intimität und Lockdown auf Zoom besaßen all jene Subtilität, die wir uns vom kuratorischen Diskurs gewünscht hätten. Die kurzen Videos der Serie Second Look (2020) von Lina Majdalanie & Rabih Mroué, in denen sie Photographien vom Flohmarkt collagieren und kommentieren, sind genauso beeindruckend wie die Webserie Deutsch Süd-Ost (2020) von Ingo Niermann über eine Enklave endlich ausgesonderter weißer Männer. In Anbetracht der großen Anzahl spannender Werke online, krankt der herbst 2020 insgesamt also weniger an der Qualität der ausgestellten Kunstwerke und Diskurse als an deren Framing im kuratorischen Narrativ, den schwachen Werken im öffentlichen Raum und der mangelnden Kontextualisierung in Graz. Wenn es nur darum ginge, ob letztlich bei einem Festival interessante Werke überwiegen oder nicht und nicht darum, wie es sich positioniert, wäre auch Paranoia TV – in seiner online Variante – ein großartiges Festival.

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Die Online-Arbeiten sind noch bis 31. Dezember 2020 zu erleben unter: --> https://www.paranoia-tv.com

Mehr Texte von Klaus Speidel

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