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Clemens von Wedemeyer - Mehrheiten: The Making of Masse

Clemens von Wedemeyer mag es gerne ortsspezifisch. Wir erinnern uns beispielsweise noch gut an seinen „Muster“-Beitrag zur documenta 13, eine Video-Installation, mit der er die wechselhafte Geschichte des Klosters Breitenau bei Kassel, genauer seine alternierende Verwendung als Gefängnis, Konzentrationslager und Erziehungsheim, einfing. Und so überrascht es nicht weiter, dass von Wedemeyer es sich auch für seine aktuelle Ausstellung angelegen sein ließ, wieder eine Arbeit zu produzieren, die mit dem Ort ihrer Aufführung verschränkt ist: Pünktlich zum dreißigjährigen Jubiläum bemüht sich deshalb „70.001“ um eine Rekonstruktion der Leipziger Montagsdemonstrationen, die ja, wie allgemein bekannt, die Autorität des DDR-Regimes erschütterten und damit in unmittelbarer Folge zum Fall der Berliner führten. Anders als bei „Muster“ ist es von Wedemeyer hier aber nicht um eine Inszenierung der historischen Wahrheit zu tun, sondern eher um ein fingiertes Reenactment oder eine Art Reaktualisierung. Denn der Arbeit liegt erstens die spekulative Vorstellung zugrunde, dass die Teilnehmer aller vorgängigen Demonstrationen sich am 9. Oktober 1989, also an dem Tag, an dem das Regime schließlich klein beigab, zu einer riesigen Menge zusammenfand, die die Stadt flutete; und zweitens verlegt von Wedemeyer das damalige Geschehen in das Leipzig von heute, allerdings in ein virtuelles Leipzig, durch das sich mithin ein Heer von digitalen Agenten wälzt. Herausgekommen ist dabei eine leicht anämische Arbeit, in der Form und Inhalt nicht koalieren, sondern sich fliehen, da die Computerspiel-Ästhetik ihrem historischen Gegenstand eindeutig nicht gerecht zu werden vermag: Denn da ist so gut wie nichts zu spüren von der lauernden Gefahr, der drohenden Gewalt, der nervenzerfetzenden Spannung an diesem so geschichtsträchtigen Tag, an dem sich das Schicksal eines ganzen Staates entscheiden sollte; und daran mag auch die Tonspur nichts ändern, auf der Zeitzeugen – darunter der Fotograf, der die Demonstration heimlich filmte und die Aufnahmen dem Westfernsehen zuspielte, weswegen auch die DDR-Bevölkerung davon Kenntnis bekam – eindrücklich von damals berichten, wird dadurch die Kluft zwischen der historischen Dramatik und der für sie gefundenen oder generierten Bilder vielleicht sogar nur noch größer. 

Dieses neue Werk ist allerdings nur das letzte Beispiel für von Wedemeyers anhaltendes Interesse an Phänomen der Massenbildung, das den insgesamt neun hier versammelten Videoarbeiten auch als Klammer dient. Begründet wurde dieses Interesse dabei schon sehr früh, nämlich als ihn zu Studienzeiten – und das dürfte jetzt angesichts des Gegenstands nicht wirklich verwundern – Elias Canettis 1960 erschienene Publikation „Masse und Macht“ in ihren Bann zog, welches Faszinosum schließlich auch zu seiner Diplomarbeit „Occupation“ (2002) führte: Da verliert bei Nachtaufnahmen ein Filmteam die Kontrolle über das Geschehen, weil die Masse von Statisten einen eigenen Willen auszubilden scheint. Und schon da setzt von Wedemeyer mit „The Making of Occupation“ (ebenfalls 2002) bereits auf das Mittel des Making-of, das uns bei ihm wiederholt begegnet, weil er damit das Referenzwerk um eine dokumentarische oder eine weitere zeitliche Ebene bereichern kann; in diesem Fall aber auch um die Erkenntnis, wie sehr das Gelingen eines künstlerischen Vorhabens von der Kooperationsbereitschaft der daran Beteiligten abhängt. Wie entropische Menschenmengen wieder eingehegt und in einen Zustand der Ordnung überführt werden können, davon handeln dann die zwei Videos „Katastrophenübung“ (2019) und „Crowd Control“ (2018): ersteres die Dokumentation einer Bevölkerungsschutz-Übung und damit die Simulation von Sicherheit, zweiteres die Vorführung eines Programms der holländischen Polizei zur Perfektionierung ihrer Einsätze bei Demonstrationen und damit die Simulation von Macht.

Mehr Texte von Peter Kunitzky

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Clemens von Wedemeyer - Mehrheiten
13.07 - 17.11.2019

GfzK - Galerie für zeitgenössische Kunst
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