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Speerspitze und Mängelwesen

Solange sie durch das makellose Weiß gleiten, ist ihnen Eleganz nicht abzusprechen. Ja selbst auf den Steigungen nicht, wenn sie in gleichem Takt kräftig aufwärts streben. Aber bereits bei den Abfahrten kommt der Verdacht auf, es handle sich um nachmenschliche Hybride, die nur durch Leichtbauweise und Entkörperung bestehen können. Endgültig bestätigten sich solche Ahnungen nach dem Zieleinlauf, wo diese zerbrechlichen Sonderlinge zu Boden sinken. Materialermüdung lässt sie knicken. Würden sie nicht nach Luft ringen, man würde an ihnen nichts mehr Menschliches und nur mehr misslungene Mutationen finden. Der moderne Langlauf besteht aus kafkaesken Kreaturen aus schlanker Gestalt, dünnen Stöcken und spitzen Skiern. Die von Diät ausgedörrten Körper gehen nahtlos in noch schlankere Extensionen aus Fiberglas über. Ohne Bedenken müsste man diese Rennläufer*innen als surreale Wesen ansprechen, würden sie nicht Sonnenbrillen, buntfarbige Anzüge und am Ende doch Emotionen zeigen.

Manche von ihnen sind den Skulpturen der Germaine Richier ähnlich. Richier ist eine wichtige Bildhauerin der frühen Nachkriegszeit. Nach dem Desaster von Weltkrieg und Holocaust werden Existenz und Schuld zum drängenden Thema: die Frage nach dem Sinn und Streben des Menschen. Richier antwortet düster. Das Unbehagen am Menschlichen endet für sie in schaurigen Wesen. Sie erfindet Gliederfüßer mit dünnen Auslegern und leeren Augen. Stets wanken sie, sie sind zu schlank, um selbstständig zu stehen. Es sind Zwitter von Mensch und Insekt, gesichtslose Phantasmagorien, die dem Albtraum näher sind als der gelehrigen Fabel. Aus ihnen wird man nicht klug, Besonders wenn die bronzenen Gottesanbeterinnen wie Fürsprecherinnen auftreten, und dennoch nur schreckliche Visionen des eigenen Ungenügens vermitteln.

Heutige Langläufer*innen (die für ihre Dopingvergehen nicht in Schutz genommen werden dürfen) mögen sich wie diese Geschöpfe fühlen, als Menschen zu wenig, als blutarmes Insekt zu viel. Ist es richtig, was man von Insekten sagt, sie hätten weißes Blut? Tatsächlich ist ihr ganzer Körper ein angereicherter Blutbeutel von reinster Probe. So wäre ihr tracheengespeister Energiehaushalt für jede Sportmedizin ein Ideal. Das Schlimmste aber ist nicht, dass die Sauerstoffzufuhr der Gattung Mensch verbesserungsfähig wäre. Das Schlimmste ist, dass sich Extremsportler*innen als Speerspitze dieser Gattung und zugleich als Mängelwesen fühlen. Darin sind sie allen anderen, auch den Untrainierten ebenbildlich. Denn die Aufregung um den Doping-Betrug befördert nicht nur das Drama gescheiterter Held*innen zutage, sondern ist das Merkmal allergewöhnlichsten Daseins. Die Körper- und Leistungsoptimierung, ja Selbstausbeutung und unsolidarische Eigeninitiative sind die Maßstäbe des gegenwärtigen Arbeitslebens. Das Bemühen um Eleganz, dies zu verschleiern, ist der Anfang vom Trug. Darum ist der Skandal von Seefeld mehr als nur ein Irrweg einzelner. Er ist Zeichen einer den Körper ausreizenden Zeit.

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Abbildung: li. Dominik Baldauf (links) und Max Hauke (rechts), 2019 / re. Germaine Richier: La Montagne / Das Gebirge 1955/56

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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Ihre Meinung

1 Posting in diesem Forum
"Super Kommentar"
Crisfor | 18.03.2019 07:50 | antworten
Dazu fällt mir eine der Fragen am Ende des Buches "Homo Deus" von Yuval Noah Harari ein: ""Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?"

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