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Die Büchse der Pandora

Auch im dritten Jahr ihrer gemeinsamen Intendanz ist es Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber wieder gelungen, zu einem spannenden und sehr ansprechenden Festivalprogramm auch eine Atmosphäre kreativen Aufbruchs und politischer Relevanz zu schaffen. Die Diagonale war einmal mehr ein Treffpunkt, der die zahlreichen ProtagonistInnen des österreichischen Films auf Augenhöhe zu ihrem Publikum brachte. Dies manifestierte sich täglich in den nach den Screenings stattfindenden moderierten Publikumsgesprächen, aber auch in den Kinofoyers und der „Nachtschiene“.

Eine ganze Reihe von Filmprojekten ging in die Tiefe und holte Verdrängtes ans Licht. Diese Tendenz zeigte sich gleich beim Eröffnungsfilm „Murer – Anatomie eines Prozesses“ von Christian Frosch, der den Preis als bester Spielfilm erhielt. Das gut recherchierte, spannende, auch in den Details und der Figurenzeichnung stimmige Gerichtssaaldrama rollt einen Justizskandal der Zweiten Republik auf: Den trotz eindeutiger, schwer belastender Zeugenaussagen erfolgten Freispruch für den NS-Kriegsverbrecher Franz Murer, unter seinen Opfern auch bekannt als der „Schlächter von Vilnius“, in Graz 1963. Frosch macht dabei unmissverständlich deutlich, wie die damalige Zweite Republik eine Verurteilung Murers unter keinen Umständen wollte, so sehr sich Simon Wiesenthal, gespielt von Karl Markovics, auch darum bemühte. Es ist ein wichtiger Film für die Aufarbeitung der österreichischen Nachkriegsgeschichte.

Auch das aktuelle, bereits auf der Berlinale ausgezeichnete Filmprojekt von Ruth Beckermann trägt dazu bei. „Waldheims Walzer“ rollt die Ereignisse um die Waldheim-Affäre auf. Minutiös führt die schon 1986 als Aktivistin gegen die Präsidentschaftskandidatur des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheim dabei gewesene Zeitzeugin in die Chronologie der Ereignisse ein, vom aufdeckenden Profil-Artikel von Hubertus Czernin, der die verleugnete NS-Vergangenheit Waldheims offenlegte, über die Proteste bis zur Wahl unter dem Motto „Jetzt erst recht“, die Waldheim erst beim zweiten Anlauf und sehr knapp gewann. Einen Teil des verwendeten Materials hat Beckermann damals selbst mit einer Videokamera gedreht, das sie inzwischen verloren glaubte und erst kürzlich wiederfand. Spannenderweise bezieht sie auch Material ein, das die Debatte aus US-amerikanischer-Sicht zeigt, und das hierzulande kaum bekannt ist.

Dass Aufklärung auch im Privaten schmerzhaft, aber wichtig sein kann, beweisen zwei Dokumentarfilme, die von verdrängten Traumata erzählen. „Nicht von schlechten Eltern“ von Antonin Swoboda handelt von „Schreibabys“. Swoboda folgt den Therapiesitzungen von drei betroffenen Familien mit ihren Kleinkindern. Bald stellt sich heraus, dass es nicht nur um die Geburtstraumata der Kinder geht, sondern dass nicht selten ein Zusammenhang mit denjenigen der Eltern besteht, die verhindern, dass die Beziehungen zu ihrem Nachwuchs sich herzlich entwickeln.

Tief in eine andere Richtung dringt Bettina Henkel mit ihrem mutig und einfühlsam in der eigenen Familiengeschichte forschenden Dokumentarfilm „Kinder unter Deck“ ein. Sie geht dem gar nicht so seltenen Phänomen des psychologischen „Familienfluchs“ auf den Grund, der in ihrer Kindheit dazu führte, dass sie, wie sie selbst gegen Ende ihrer Arbeit reflektiert, die kriegsbedingten Traumata von Flucht und des sich nicht heimisch Fühlens ihrer Großmutter und ihres Vaters deutlicher spürte als ihre eigenen Gefühle. Die von ihr stets bewunderte Großmutter, eine Ärztin, lebt nicht mehr, aber gemeinsam mit ihrem Vater, einem Psychoanalytiker, besuchte sie die Orte in Lettland, an denen die Familie früher lebte, und in Polen, wohin ihre Großeltern 1939 umsiedelten, um ein Gut zu übernehmen. Als Bettina Henkel ein Paket mit Unterlagen ihrer Großmutter öffnet, die sie von ihrem Onkel geschickt bekam, fürchtet ihr Vater, es könnte womöglich die "Büchse der Pandora" sein, also etwas enthalten, das man besser nicht wissen sollte. Die Filmemacherin öffnet es aber trotzdem, und behält Recht damit, wissen zu wollen, statt weiter unter dem Einfluss des nicht Ausgesprochenen zu stehen.

www.diagonale.at

Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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