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Ramesch Daha - Unlimited History: Archäologien der Erinnerung

Zeitungsausschnitte, vergilbte Fotos einer Hochzeit, ein kleines Büchlein mit dem Titel „Pocket Guide to Iran“, zerfledderte Briefe, handgezeichnete Landschaften, ein beiläufiger Schnappschuss eines Bahnhofs vor schneebedeckten Bergkuppen, Koordinaten, Straßennamen. Die Summe der Geschichten, die Geschichte schreiben.

Die Erinnerungen ihrer Großmutter, deren brüchige Stimme durch den Ausstellungsraum summt und sich zwischen den Lücken des herbeigeschafften Materials in den Vitrinen zu verfugen scheint, waren der Ausgangspunkt für Ramesch Dahas „Unlimited History“.

Mit jedem Bild, jedem Satzfragment, fügen sich nach und nach Versatzstücke der Geschichte zusammen, die die Künstlerin erzählt. Die Augen der alten Dame auf dem Screen schweifen weit in die Ferne, während sie ihre Erinnerungen in die Kamera spricht. Sie erzählt von der Straße, in der sie als junges Mädchen lebte, und deren Name über die Jahre vier Mal geändert wurde. Bis 1934 trug sie den Namen „Amjadeyeh“, bevor sie in „17-Dey 1314“ umbenannt wurde, wie der 6. Januar im persischen Kalender heißt, der Tag, der bis zur Revolution als „Tag zur Befreiung der Frau“ gefeiert wurde, an dem Reza Schah und seine Frau sich öffentlich gegen das Tragen des Tschador aussprachen. Ohne zu verstehen, was mit ihr geschah, sah sich die Familie 1943 auf einmal abgetrennt vom Rest der Stadt und von Soldaten umsäumt. Erst Tage später konnten sie in der Zeitung lesen, dass ‚ihre‘ Straße Schauplatz der Teherankonferenz war, bei der Churchill, Roosevelt und Stalin die Absprache über die weitere Vorgehensweise auf dem europäischen Kriegsschauplatz trafen. Die Umbenennung in „Roosevelt Straße“ hielt nachvollziehbarerweise nur solange, bis sie während der „Islamischen Revolution“ wieder umgetauft wurde.

Das Schicksal der Straße erscheint paradigmatisch für die Hegemonien, aus deren Sprache, Denken und Erzählen, sich das zusammenfügt, was wir Geschichte nennen. Daha führt die losen Enden einer Geschichte zusammen, die ihre ist, aber auch die eines anderen sein könnte, einer anderen Biographie, einer anderen Erinnerung.

Die Schnipsel, Dokumente und Fotografien werden Teil von Dahas Archäologie der Erinnerung, in der sie beim ultimativ Subjektiven, der erzählten Erinnerung, beginnt und sich aus ihr heraus auf Spurensuche zwischen den festgeschriebenen Chroniken der Geschichte begibt. Im Zusammenwirken der dokumentarischen Fragmente, erscheinen die Biographie ihrer Familie, die großen historischen Narrative, und die Sehnsuchts- und Verortungsgefüge, die wir als „Identität“ bezeichnen als fluide Gerüste, die sich gegenseitig bedingen und hervorbringen. So wird der Bau der Transiranischen Eisenbahn, auf dessen Realisierung sich zum einen Industrialisierung und Öffnung des Landes, andererseits auch die politische Verbindung zwischen Hitler-Deutschland und dem Iran, zurückführen lässt, zum Knotenpunkt einer Vielzahl filigraner Erzählstränge.

In einer Strategie regressiver Traumarbeit eignet sich Daha die Kategorien von Kartographie, Dokumentation, Erinnerung und Erzählung an und entwirft damit eine Strategie der „Reparatur“, die schmerzhafte Lücken, die politische Oppression, Vertreibung, Krieg und die Sollbruchstellen eines instabilen Bezugs zu Geschichte und Identität hinterlassen haben.

Dahas Arbeit ist gerade im Bezug auf ihr Interesse an den erkenntnistheoretischen Funktionen des Dokumentarischen ins Verhältnis zu setzen mit Positionen wie z.B. Walid Raads Projekt „The Atlas Group“, das in verschiedenen künstlerischen Unternehmungen, die zeitgenössische Geschichte des Libanon im Hinblick auf die strukturbildende Wirksamkeit der Fotografie reflektiert. Die Verzahnung zwischen Privatheit und historischem Narrativ, dem Archiv als Wissens- und Kanon-bildende Kulturtechnik, und die vertrackten Evidenzen des Fotografischen, spielen auch in Dahas Praxis eine zentrale Rolle.

Einzig fragwürdig erscheint die Umsetzung dieser Fragen in die Malerei, in der Daha den Versuch unternimmt, in ihren großformatigen Arbeiten kartographische Fiktionen zu entwerfen. Aus konzeptueller Perspektive könnte dieses Gegeneinanderhalten der epistemologischen Eigenschaften und Potentiale von analoger/digitaler Fotografie und der Malerei zu einer der interessantesten Punkte der Ausstellung werden, was in dem etwas behäbigen Versuch, dies in einem Schritt auf die Leinwand zu bannen, leider scheitert. Die Malerei selbst verbleibt als schiere Illustration.

Aufgrund des überzeugenden Umgangs mit dem filmischen Material sowie der feingliedrigen Recherchearbeit und rigiden Intimität ist „Unlimited History“ dennoch ein sehenswerter Beitrag, gerade im Sinne der im Zuge der letzten documenta viel besprochenen Hinwendung zu den Kategorien Archiv und Dokument.

Mehr Texte von Anna Gien

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Ramesch Daha - Unlimited History
20.01 - 10.03.2018

Nagel Draxler Kabinett
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Tel: +49 30 40042641, Fax: +49 30 40042642
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