Werbung
,

Versuch eines Miteinander

Mit der 15. Ausgabe der Istanbul Biennale werden künstlerisch diskursive Modelle erprobt, die zwar seit mehreren Jahren verhandelt werden, jedoch für die Existenz der Kunstszene des Landes aktuell eine wesentliche Bedeutung einnehmen. Zuallererst wurde das Künstlerduo Elmgreen & Dragset als Kuratorenteam eingesetzt und dadurch die langjährige Forderung vieler KünstlerInnen erfüllt, ein globales Event dieser Größenordnung verantworten zu können. Unter dem Titel „A Good Neighbour“ werden Koexistenzmodelle vorwiegend in urbanen Konglomeraten auf ihre Validität überprüft und wie sich in multiethnischen, -religiösen und genderfluiden Strukturen ein Miteinander an Lebensmöglichkeiten eröffnet bzw. sich bestimmte gesellschaftliche und politische Gruppierungen dagegen verwehren. Ein aktuelles Bespiel für letzteres wäre das Entfernen der Tramlinie bzw. der Straßenbahngleise in Istanbuls Hauptstraße, der İstiklâl Caddesi (Unabhängigkeitsstraße), da diese zu sehr an die Modernisierungsversuche eines Atatürk erinnert und nicht an ein Staatsmodell, bei dem Politik und Religion miteinander verwoben sind. Nach einem Jahr zahlreicher Vorkommnisse wagte es der Kunstraum Arter erneut, seine Eröffnung vom Inneren des Gebäudes hinaus auf die İstiklâl auszudehnen, und dies in dem Bewusstsein, dass Gäste von islamtreuen Teilen der Bevölkerung aufgrund des Genusses von Alkohol auf der Straße attackiert werden könnten. Als Parallelevent der Biennale diente auch die Eröffnung der Ausstellung des kurdisch-türkischen Künstlers Halil Altındere in einem leerstehenden Gebäude, in dem er sich auf zwei Ebenen in ironischer Weise mit der Flüchtlingsproblematik und der nach wie vor prekären Lage im Nachbarland Syrien auseinandersetzte.

Zurück zur Biennale: Auf einer theoretischen Ebene verhandeln die Kuratoren all die Problematiken, die sich in der Türkei in den letzten Jahren zugespitzt hatten und in vielen Teilen der Welt Koexistenzmodelle der Bevölkerung aufgrund der Diversität ihrer AkteurInnen gefährden. Abseits politischer Narrative werden auch die Mikrokosmen in der persönlichen Umgebung mit dem Zuhause, mit Mobiliar, Tieren und Pflanzen thematisiert und somit unterschiedliche Nachbarschaftszusammenhänge ergründet. Während traditionelle Ausstellungshäuser wie Istanbul Modern, Pera Museum oder die bereits mehrmals bespielte griechische Schule in Galata die Zentren der Biennale bilden, gibt es auch ausgeklügelte Einzelpräsentationen wie die vom 2013 gegründeten Kollektiv Yoğunluk, dessen Atelier neben der İstiklâl zu einer schaurigen Dunkelkammer mit graduellen Beleuchtungsszenarien versehen wurde. Ugo Rondinone installierte eine Außenregenbogenleuchtschrift mit der Frage „Where do we get from here? und Stephen G. Rhodes intervenierte in den für Frauen vorgesehenen Teil eines Hammams. Die generelle Wirkungsweise der Biennale fokussiert ästhetisch wohl durchdachte Präsentationen, die ein eher cleanes Format vorgeben, dem auch der einzige Wiener Repräsentant Leander Schönweger folgt. Im Dachgeschoß der griechischen Schule inszenierte er ein weißes Kabinett an immer kleiner werdenden Türöffnungen, die ein Eintreten schließlich unmöglich machen, eine wirksame Intervention, der jedoch schon so manche kunsthistorische Vorbilder vorausgehen.  

Während die aufgrund der Krise bereits seit mehreren Jahren eingestellte Kunstmesse Art International nicht mehr während der Biennale Eröffnungstage stattfand, wurde die traditionellere Ausgabe der Contemporary Istanbul vom November auf September vorverlegt. Unter den vorwiegend türkischen Galerien wagte sich als einzige Stargalerie Victoria Miro gleich in den Eingangsbereich und bot unter anderem Arbeiten von Elmgreen & Dragset an. Insgesamt ermöglichte die Eröffnungswoche eine Fülle an täglich stattfindenden Präsentationen, von denen einige einem kritischen Auge nicht unbedingt Stand zu halten vermögen. Nach langer Zeit konnte jedoch eine eindeutige Wiederbelebung der Istanbuler Kunstszene festgestellt werden, bei der sich ein Miteinander oder zumindest Nebeneinander einstellt und die Stärke der Kunst gegenüber politischen Machenschaften in den Vordergrund tritt.    

15. Istanbul Biennale
a good neighbour
16.09.2017 – 12.11.2017

Mehr Texte von Walter Seidl

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

2 Postings in diesem Forum
English? - Türkisch?
Doris | 19.09.2017 07:29 | antworten
Bitte, wenn möglich in Englisch oder Türkisch verfassen - ich würde es gerne an meine türkische Community in Istanbul weiterleiten (3500). lg. Doris
Übersetzung
Redaktion | 26.09.2017 03:48 | antworten
Leider können wir keine Übersetzungen auf Bestellung für unsere Kritiken anbieten, wir leiten die Kritik aber gerne an unsere deutschsprachige Community in Istanbul weiter.

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: